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Fallprozessierung und Fallkonstitution im Kinderschutz

Habilitationsprojekt Stephan Dahmen

Mit der wachsenden gesellschaftlichen Sensibilität für die Rechte und die Lebenssituation von Kindern sowie der medialen Skandalisierung besonders tragischer Kinderschutzfälle rückt der Schutz von Kindern verstärkt in den Fokus der öffentliche Diskussion, der Politik und der Forschung. Laut Kinder- und Jugendhilfestatistik sind die Zahlen der Verfahren zur Einschätzung einer Gefährdung des Kindeswohls (§ 8a SGB VIII) in den letzten Jahren deutlich angestiegen (Komdat 2019) und beschreibt lokale Unterschiede bezüglich der Zahl der Verfahren und der sogenannten Gefährdungsquoten (Mühlmann 2019) als Indiz für lokale, kommunale Unterscheide des Umgangs mit 8a-Meldungen. In den letzten Jahren lassen sich zunehmend Versuche verzeichnen Gefährdungseinschätzungen und Entscheidungsprozesse zu standardisieren (Albrecht et al. 2016, Büchner 2018; Dahmen/Kläsener 2018), trotz eines relativ hohen Grades an rechtlicher Formalisierung und teilweise sehr detaillierten Verfahrensvorgaben besteht eine hohe lokale Diversität der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich Zuständigkeiten, Verfahren und Ressourcen (Bode/Turba 2014).

Mittlerweile liegen eine Reihe an Studien zur Organisation von Entscheidungsprozessen im Kontext von Gefährdungs- und Hilfeentscheidungen vor. Ein Großteil dieser Studien (Franzheld 2017; Bühler Nieberberger et. al. 2012, Alberth 2017, Eger 2009, Büchner 2018, Böwer 2012) beruht methodisch überwiegend auf in Interviews erhobenen Fallnarrationen, wodurch Entscheidungsprozesse nur retrospektiv, als bereits getroffene Entscheidungen in den Blick genommen werden. Erste ethnographische Studien fokussieren Entscheidungsfindung in ASD Teams (Retkowski 2012; Wilk und Pothmann 2009), Aushandlungs- und Kommunikationsprozesse mit Familien (Schäuble 2012, Pomey 2017) oder Hausbesuche im Kontext von Gefährdungseinschätzungen (Urban-Stahl 2018; Freres 2019). Nur wenige Studien haben bisher die Nutzung von standardisierten Einschätzungsbögen im Kontext von Gefährdungeinschätzungen (Bastian 2019, Ackermann 2017) erforscht. Auch liegen bisher nur vereinzelt Studien vor, welche Fallkonstitution und - und Gefährdungsentscheidungen als organisatorisch eingebettete,in konkreten Situationen vollzogene Praktiken analysieren (siehe aber Ackermann 2017, 2019, Bastian 2019). Auch verweisen erste Studien auf eine große lokale Diversität in der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich Zuständigkeiten, Verfahren und genutzten Instrumenten hin (Bode und Turba 214; Schone 2015, 282). Wie sich diese auf situierte Entscheidungs- und Urteilprozesse auswirken ist bisher nicht ausreichend erforscht.

Das Projekt zielt auf eine qualitativ-empirische Rekonstruktion der Prozessierung von Fällen und dem Zustandekommen von Entscheidungen mit dem Fokus auf Verfahren der Fall- und Gefährdungseinschätzung, die lokal seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetztes implementiert wurden. Ziel des Projektes ist es erstens, die heterogene Praxis der Gefährdungseinschätzung (sowie das Zustandekommen daran anschließender Fallenscheidungen) auf der Organisations,- Verfahrens- und Instrumentenebene in drei kontrastiv ausgewählten Jugendämtern zu explorieren. Zweitens soll das Zustandekommen von Fallentscheidungen durch den trans-sequenziellen Nachvollzug der materialen Fallkonstruktion in je konkreten Einzelfällen praxeologisch rekonstruiert werden.

Methodisch orientiert sich das Projekt an der Institutional Ethnography im Sinne Dorothy Smiths (2005) sowie der transsequenziellen Analytik Scheffers (2014). In Abgrenzung zu traditionellen Ansätzen der Entscheidungsforschung im Kinderschutz, welche die Rationalität, die Reflexivität sowie die aktive Wahl zwischen verschiedenen Alternativen in den Mittelpunkt stellen (etwa, Bembenishty/Fluke 2021, für einen Überblick: Bastian/Schrödter 2015) sollen im vorliegenden Projekt Entscheidungen als sozial situierte und organisierte Soziale Praxis rekonstruiert werden (siehe etwa Wilz 2009). Denn erstens handelt es sich bei Fallentscheidungen um Formen „organisierter Personenbewertung“ (Kalthoff 2018, Peetz/Meier 2021), welche in einem für das praktische Bewerten erforderlichen Gerüst von soziomateriellen Arrangements Standards und diskursiven Rahmungen (Nicoale, Berli et. al 2019: 13; Schatzki 2016: 33) stattfindet. In dieser Perspektive finden Entscheidungen im Spannungsfeld von routinisierter Regelanwendung und reflexiver Begründung statt. Handlungs- und Entscheidungsprämissen können so je nach Handlungssituation implizit bleiben oder aber problematisch und dann reflexiv werden. Zweitens sensibilisiert die praxistheoretische Perspektive dafür, dass von einer Pluralität von sich auch widersprechenden Bewertungsschemata und Rationalitätskriterien auszugehen ist, welche nicht in den kognitiven Nutzenabwägungen und den Präferenzen der Akteure, sondern in den „formatierten, vorbereiteten und arrangierten Anordnungsdispositiven“ (Knoll 2021: 15) der Situation zu verorten sind. Die entscheidende Fachkraft muss folglich als abhängig von soziomateriellen Konstellationen gedacht werden, welche Entscheidungen im Spannungsfeld praktischer Handlungsanforderungen und organisatorischer Legitimationsanforderungen trifft. Drittens richtet eine praxistheoretische Perspektive ihr Augenmerk auf die „formativen Objekte“ (Scheffer 2013: 90) die situative Bewertungspraktiken präfigurieren, und im Prozess der Bewertung sowohl formbar als auch zu formen sind, auf die jeweilige Situation jedoch auch formierend wirken. Methodisch kommen neben teilnehmender Beobachtung von Fallbesprechungen auch ethnographische Interviews und Dokumentenanalysen zum Einsatz.

  • Ackermann, T. (2017). Über das Kindeswohl entscheiden. Eine ethnographische Studie zur Fallarbeit im Jugendamt. Bielefeld: transcript.
  • Alberth, L. & Eisentraut, S. (2012). Eine interaktionistische Perspektive auf Standardisierungsprozesse in der Kinder-und Jugendhilfe: professionelles Handeln bei Kindeswohlgefährdung. Zeitschrift für Sozialreform, 58(4), 427-450.
  • Alberth, L., Bühler-Niederberger, D. & Eisentraut, S. (2014). Wo bleiben die Kinder im Kinderschutz? Die Logik der Intervention bei Sozialarbeitern, Ärzten und Hebammen. In: D. Bühler-Niederberger et al. (Hrsg.), Kinderschutz. Wie kindzentriert sind Programme, Praktiken, Perspektiven? Weinheim: Beltz Juventa, S. 26-61.
  • Albrecht, M., Lattwein, S., & Urban-Stahl, U. (2016). Der Hausbesuch im Kontext des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung. neue praxis, 46(2), 107–124.
  • Bastian, P. & Schrödter, M. (2015a). Professionelle Urteilsbildung in der Sozialen Arbeit: Übersicht zur Forschung über den Vollzug und die Herstellung professioneller Urteile. Soziale Passagen, 6(2), 275-297.
  • Bastian, P. & Schrödter, M. (2015b). Risikotechnologien in der professionellen Urteilsbildung der Sozialen Arbeit. In: N. Kutscher et al. (Hrsg.), Mediatisierung (in) der Sozialen Arbeit. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 192-207.
  • Bastian, P. (2019). Sozialpädagogische Entscheidungen: Professionelle Urteilsbildung in der Sozialen Arbeit. Opladen: UTB.
  • Bastian, P., Freres, K. & Schrödter, M. (2017). Risiko und Sicherheit als Orientierung im Kinderschutz. Deutschland und USA im Vergleich. Soziale Passagen, 9(2), 245-261.
  • Bode, I. & Turba, H. (2014). Organisierter Kinderschutz in Deutschland. Strukturdynamiken und Modernisierungsparadoxien. Wiesbaden: Springer.
  • Büchner, S. (2017). Der organisierte Fall: Zur Strukturierung von Fallbearbeitung durch Organisation. Wiesbaden: Springer.
  • Bühler-Niederberger, D., Alberth, L. & Eisentraut, S. (Hrsg.) (2014). Kinderschutz. Wie kindzentriert sind Programme, Praktiken, Perspektiven? Weinheim: Beltz Juventa.
  • Kalthoff, H. (2018). Kontingenz und Unterwerfung. Die organisierte Humanevaluation der Schule. In Un/doing Differences (pp. 259-284). Velbrück Wissenschaft.
  • Knoll, L. (2021). Bewerten oder Prüfen? Zur Relevanz der Figur der Prüfung für die Organisationssoziologie. In Organisation und Bewertung (pp. 49-69). Springer VS, Wiesbaden.
  • Nicolae, Stefan, Martin Endreß, Oliver Berli, and Daniel Bischur, eds. (Be) Werten. Beiträge zur sozialen Konstruktion von Wertigkeit. Springer-Verlag, 2018.
  • Schatzki, T. R. (2016). Praxistheorie als flache Ontologie. In: H. Schäfer (Hrsg.), Praxistheorie. Ein soziologischeForschungsprogramm. Bielefeld: transcript, S. 29-44.
  • Scheffer, T. (2013): Die trans-sequentielle Analyse – und ihre formativen Objekte. In: R. Hörster, S. Köngeter, & B. Müller (Hrsg.): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. Wiesbaden: Springer VS, S. 87-114.
  • Schone, R. (2015): Einschätzung von Gefährdungsrisiken im Kontext möglicher Kindeswohlgefährdung. In: Merchel, J (Hrsg.): Handbuch Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) (2., aktualisierte und erweiterte Auflage). München: Ernst Reinhardt, 277-285.
  • Smith, D. E. (2005). Institutional ethnography: A sociology for people. Rowman Altamira.
  • Wilz, Sylvia Marlene (2009): Entscheidungen als Prozesse gelebter Praxis. In: Margit Weihrich und Fritz Böhle (Hg.): Handeln unter Unsicherheit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden, S. 107-122.

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