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KrisenBILDUNG

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Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf das Coronavirus und seine gesellschaftlichen Auswirkungen

5 Fragen an: Prof. Dr. Heinz-Werner Poelchau

Prof. Dr. Heinz-Werner Poelchau ist Honorarprofessor an der Fakultät für Erziehungswissen­schaft. Beruflich war er Referats­leiter im Schulministerium NRW und zuständig zunächst für Medien in der Schule und Fernunterricht und später dann für Politische Bildung, Wertebildung und Erziehungsfragen. Er befasste sich darüber hinaus als ‚Krisenbeauftragter‘ unter anderem mit Gewalt in der Schule und wirkte als Berater des BMBF-Förder­schwerpunktes ‚Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten‘ mit. In den genannten Zuständigkeitsbereichen war er Ansprechpartner der Kultus­ministerkonferenz. Mehr als 20 Jahre versuchte er in seinen Lehrveran­stal­tungen an der Uni Bielefeld den Brückenschlag zwischen erziehungs­wissenschaftlicher Forschung und Bildungsadministration herzustellen.

Es ist schon bemerkenswert, dass selbst im journalistischen Sommer­loch die Corona-Krise das Thema Nr. 1 bleibt. Da bedarf es schon ziemlich gravierenderer Vorkommnisse, wenn auch andere Themen in den Nachrichten und so in der gesellschaftlichen Debatte vorkommen. Man stelle sich vor, welcher Aufschrei durch die bundes­deutsche Medienlandschaft gegangen wäre, wenn der Wirecard-Betrug mit all seinen Verästelungen und Versäumnissen bereits im letzten Jahr offenbar geworden wäre. Aber jetzt sind das schon fast Randmeldungen. Und der Fleischskandal – längst schon bekannt und immer wieder verdrängt – wurde ja auch erst im Zusammen­hang mit der Corona-Infektion der Mitarbeiter*innen zum Thema. Und natürlich werden die ökonomischen Konsequenzen der Krise – immer wieder verschärfend – aufbe- und ausgebreitet.

Und vor diesem Hintergrund sollte sich die Erziehungswissenschaft zu Wort melden? Und das lautstark?
Zwar befindet sich unser Fach in trauter Gemeinsamkeit mit vielen anderen Disziplinen (man denke an die Soziologie, die Chemie, die Ingenieurwissenschaften oder auch die Philosophie und viele andere), dies bedeutet aber doch nicht, dass wir nichts zu sagen hätten. Nur, und da liegt ein wenig der Hase im Pfeffer: Wir tun uns schwer mit der Skandalisierung und der Angstmache.
Das ist einerseits richtig – kümmern wir uns doch um Menschen in der Entwicklung und nicht primär um Geld oder Macht. Andererseits scheint mir diese Begrenzung fragwürdig, denn Auswirkungen der gegenwärtigen Krise werden noch viele Jahre lang das Leben von jungen und älteren Menschen prägen.
Wir wissen, wie Kinder bedrohte Umfelder in Familie und Gesell­schaft aufnehmen und sehr oft eben nur begrenzt verarbeiten können. Wir wissen, dass sich Werthaltungen langsam aufbauen und oft stabil für ein ganzes Leben bleiben. Wir wissen, dass schulische Versagensängste (auch solche durch nicht stattfindenden Unter­richt) dauerhaft die Psyche und das Lernvermögen beeinträchtigen, dass Integration in der Schule beginnt, und, und, und...

Es ist richtig, dass unsere Lobbyisten nicht wirklich lautstark sind. Es fängt schon an, dass die derzeitige SPD-Vorsitzende offenbar völlig zu vergessen scheint, dass sie einmal Landeselternratsvorsitzende war und so dem Schulsystem nahe stand. Die Kultusministerkon­ferenz hat in den letzten Wochen vor allem die Frage der Wiederher­stellung des Unterrichts nach den Sommerferien thematisiert – und die Digitalisierung der Bildung eingefordert. Also: nur eine kleine Nachricht am Rande. Die Jugendministerkonferenz hat sich zwar mit der Öffnung von Einrichtungen und Spielplätzen beschäftigt, aber kein Wort des Dankes für die Erzieher*innen gefunden, die den Notbetrieb während des shutdowns gewährleisteten. (Und abends geklatscht wurde für diese Gruppe auch nicht!) Für die Weiterbil­dung gilt Gleiches: Die Volkshochschulen haben Mitte Mai wieder ihre Tore geöffnet – thematisiert wurde dies nicht. Die Sprach- und Integrationskurse spielten nur eine geringe Rolle, obwohl viel von ihnen abhängt.

Und selbst die Hochschulen haben sich – natürlich angemessen! – für ein Semester Distance learning, home office und Onlineseminare angewöhnt. Aber öffentlich wirklich laut gegeben haben sie nicht. Höchstens wurde auf die Not Studierender, die keine Nebenjobs ausüben können, hingewiesen. Was ist denn mit all den Teilzeitver­trä­gen und den allgemeinen Zeitverträgen, wenn entweder nicht gearbeitet werden kann oder nur unter erheblichen Erschwernissen? Und was ist mit den Drittmitteln, die sicher in Zukunft nicht mehr so reichlich fließen werden, weil die Gelder für die Wiederherstellung der Wirtschaft gebraucht werden?

Ein erstes Fazit ist ein politisches: Wenn, wie in NRW rund 40% des Landeshaushalts in den Bildungs- und Erziehungsbereich fließen, dann sollten wir an der Bildungs- und Erziehungsarbeit zentral Beteiligten schon (wenigstens teilweise) prüfen, ob und welche Möglichkeiten es gibt, gemeinsam zu agieren und gemeinsame Plattformen zu entwickeln, um die Lobbyarbeit zu verstärken, und unsere Verbandsvertreter anregen, sich deutlicher zu äußern.

Bemerkenswert ist es schon, dass durch die Pandemie auch in unserem eigenen Fach einige Themenstellungen in den Vordergrund und einige in den Hintergrund getreten sind. Erkennbar ist das allseitige Bemühen, die Formen von blended learning oder des distance learning, der Onlineseminare oder andere Formen elektro­nischen Lernens intensiver zu betrachten. Inwieweit aber dabei auch die unvermeidlichen Einschränkungen und Reduktionen wahrgenom­men und aufgegriffen werden, ist noch nicht wirklich erkennbar. Ich bezweifle z.B., ob die Erfahrungen und Strategien des inzwischen schon über 100 Jahre alten Fernunterrichts wirklich aufgegriffen wurden und nicht nur technisch Mögliches auch gleich als pädago­gisch Sinnvolles interpretiert wird. Schon im Programmierten Unterricht der 80er Jahre galt es, die Lernaufgaben so und in einer gezielten, lernerzentrierten Abfolge so darzureichen, dass der/die einzelne Lernende den maximalen Anschluss an die bisherigen Kenntnisse und Fähigkeiten finden konnte und so den Lernerfolg verbesserte. Ich bin mir nicht sicher, ob die Faszination des Techni­schen oder dessen objektive Notwendigkeit – zumindest in weiten Kreisen – alte Lehr-Lern-strategische Überlegungen und Erkenntnis­se überlagert haben. Einfach Arbeitsblätter übers Internet oder gar mit der Post zu verschicken und dann zu korrigieren und zurück­zuschicken, wie man es manchmal in Reportagen gehört hat, – das kann es sicher nicht sein.

Die veröffentlichte Diskussion reduziert Unterricht (auch den an der Hochschule!) im Wesentlichen auf den kognitiven Lernbereich. Soziales und emotionales Lernen, Peer-Group-Interaktion, Ent­wick­lung von Motivationen, Aufbau und Weiterentwicklung von Wert­haltungen, von Empathiefähigkeit etc. rücken fast komplett aus dem Fokus. Auch mit modernsten Medien ist in diesem Bereich nur wenig auszurichten, selbst wenn wir jetzt Milliarden Euro in die digitale Schule stecken.

Selbst die engagiertesten Fakten- und Strategieapologeten werden bei etwas Reflektion nicht umhin können, dieses erzieherische Feld als mindestens genauso wichtig einzuschätzen.

Bedauernswert ist, dass es in unserem Fach jetzt erst recht solche Fragen schwer haben, die schon vorher am Rande lagen. Die jetzt aus demografischen Gründen immer wichtiger werdende Erwach­senen- und Weiterbildung findet kaum noch Gehör. Leider erst recht nicht ein Thema wie häusliche und/oder sexuelle Gewalt und dessen Auswirkungen auf den jungen Menschen. Wenn die Zahlen stimmen, dass in fast jeder Klasse eine Schülerin oder ein Schüler übergrif­figes Verhalten zu Hause oder auf dem Schulweg erlebt (hat) oder Opfer von Mobbing geworden ist, dann dürfen solche Themen nicht nur den kurzfristigen Medienhypes, der Justiz oder den Psychothera­peut*innen überlassen bleiben. Und natürlich werden Fragen der Intergration, der Inklusion oder von Gendering nicht einfach durch Skype-Aktivitäten erledigt.

Darüber hinaus: Was geschieht denn mit den älteren Lehrkräften, wenn sie als Risikogruppe bezeichnet (oder gebrandmarkt?) werden? Was mit denen, die keine Hauptfächer unterrichten und plötzlich marginalisiert werden oder mit denen, die aus den genannten Gründen nicht an den Lehrerkonferenzen teilnehmen können? Was mit Elternsprechtagen und Schulmitwirkung? Was mit Klassenfahrten und lerngruppen-übergreifenden Projekten?

Schließlich: Wie geht denn Schulaufsicht in diesen Zeiten – und in Zukunft?

Mir liegt schon daran, dass derartige elementar erziehungswissen­schaft­liche Themen und Arbeitsbereiche nicht aus dem Blick geraten.

Natürlich sind die jetzt unmittelbar erfahrenen Möglichkeiten des Lehrens und Lernens mit Medien über Distanz eine Chance, die wir nicht vertun dürfen. Es sind Personen an diese Möglichkeiten herangeführt worden, die sich bisher vornehm zurückgehalten haben. Und auch Ansätze, motivationale, soziale und kulturelle Aspekte mit dem neuen Lernen zu verknüpfen, sollten jetzt verstärkt aufgegriffen und erprobt werden.

Dies natürlich vor dem Hintergrund des oben Gesagten: Reduktion auf nur Kognitives heißt, zu kurz zu springen.

Wenn es auch etwas träumerisch wirkt: Es besteht jetzt die wohl nur selten sich bietende Möglichkeit, Curricula (auch solche an den Hochschulen!) zu entschlacken und neue Prioritäten zu setzen. Und verstärkt auf die Eigenverantwortung für den eigenen Lern- und Bildungserfolg zu setzen. Die Anwesenheit im Klassenraum (oder auch teilweise Hörsaal?) als zentrales Kriterium für Lernerfolg (wie dies die Kultusministerkonferenz in ihrer 'Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe und der Abiturprüfung' mit der Festlegung von Stundenvolumina bis zum Abitur de facto tut) hat in dieser Form aus meiner Sicht ausgedient. Die Kompetenz­orien­tierung muss umfänglich auch in den (schulischen) Lehrplänen umgesetzt und in das 'digitale Lernen' eingebracht werden.

Mir ist in der gegenwärtigen Krise deutlich geworden, dass die Selbstverantwortungsbereitschaft und auch die Solidarität der Menschen durchaus belastbar und auch steigerbar ist. Hierauf würde ich gerne auch in Zukunft setzen.

Zwar muss man, wie ein böser Spruch lautet, Veränderungen im Bildungswesen in den Dimensionen der Forstwirtschaft betrachten. Aber in der Forstwirtschaft beginnt ja inzwischen auch ein erheb­liches Umdenken: weg von den Monokulturen und der Plantagen­wirt­schaft hin zu differenzierten und ökologisch sinnvollen Pflanzungen und Pflegestrategien.

Einen Reset in der Bildungspolitik sollte es nicht geben, wohl aber ein tiefes Durchatmen mit der Frage, ob Effizienz und Anpassung an (ökonomische) Bedarfe die zentralen Kriterien bleiben dürfen. Und es bedarf einer tieferen Zusammenschau des auch in unserem Fach Erarbeiteten und des Abgleichs mit dem gesellschaftlich Wünsch­baren. Die Bildung noch einer weiteren Sektion in der Gesellschaft für Erziehungswissenschaft scheint mir nicht die Lösung und ebenso wenig die Einführung von neuen 'Standards' im sozialpädagogischen Arbeitsfeld.

Auch wenn es im Moment, wo allenthalben Unsummen von Geld freigiebigst verausgabt werden, nicht so scheint: Die wohl nur begrenzten positiven Effekte werden sich nicht im gewünschten Umfang einstellen, dessen bin ich mir sicher. Vielleicht wird dann auch den Lobbyisten aller Couleur deutlich, dass nicht nur der Mammon in einer Gesellschaft zählt.

Auch hier ein eher politisches Fazit: Es könnte Sinn machen, in einem neuen Deutschen Bildungsrat [die Probleme des alten Gremiums sind wohl bekannt, müssen aber auch nicht wiederholt werden!] Kern- und Leitlinien zu diskutieren. Und das mit neuen Kooperations-, Diskussions- und Steuerungspartner*innen; es böten sich vielfältige spannende Auspizien an.

Die Pandemie hat gezeigt, dass Wortführerschaften zwar zeitlich bedingt notwendig sind, sie aber nicht – auch nicht vorübergehend – die alleinige Deutungshoheit übernehmen dürfen. Es ist absehbar, dass die nächste Pandemie bald wieder kommt, so wie jedem Ökonomen klar ist, dass die nächste Finanzkrise quasi vor der Tür steht. Wie kann man darauf vorbereitet sein?

Bildung (nicht Expertenwissen) und Selbst- und Sozialverantwortung (oder umgekehrt?) bieten die Möglichkeit, flexibler zu agieren und zu reagieren. Hier liegen Schwerpunkte einer zukunftsorientierten Bildungspolitik. Die Akteure brauchen allerdings ein gehöriges Maß an Mut. Ach ja, auch dazu kann Bildung und Erziehung beitragen.


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