Carsten Reinhardt ist an der Leitung des Forschungsprogramms zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft beteiligt.
Carsten Reinhardt ist PI im SFB 1288, Praktiken des Vergleichens
Carsten Reinhardt ist Projektleiter des DFG-Projekts „Forensische Toxikologie in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert: Methodenentwicklung im juristischen Kontext“ (Projektbearbeiter: Marcus Carrier).
Methodenwahl in der forensischen Chemie bzw. Toxikologie in den deutschen Staaten und Frankreich des 19. Jahrhunderts im Vergleich
In meinem Dissertationsprojekt geht es um die Frage, wie chemische Expertise vor Gericht kommuniziert wurde und wie sie Glaubwürdigkeit erlangte. Mein Fokus liegt dabei erstens auf Giftmordprozessen des 19. Jahrhunderts und zweitens auf der Methodenwahl der Experten: welche der zur Verfügung stehenden analytischen Methoden wurden zur Feststellung von Giften verwendet und welche Eigenschaften machten diese Methoden (aus Sicht der Experten und des Gerichts) besonders glaubwürdig? Unterschieden sich diese gewählten Methoden von anderen Bereichen der analytischen Chemie des 19. Jahrhunderts, und wenn ja, warum? Die der Arbeit zugrundeliegende These ist, dass sich in der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten vor Gericht, insbesondere durch die Konfrontation mit Laien (Richtern, Geschworenen, Anwälten…), für die forensische Toxikologie ein spezifischer Methodenkatalog durchsetzte, der grundlegend verschieden von anderen Anwendungen der analytischen Chemie war. Im Mittelpunkt stand vor Gericht nicht (nur) das möglichst genaue und wahre Ergebnis, sondern auch die Präsentation dieses Ergebnisses in (für Laien) möglichst überzeugender Form.
Um den Einfluss des geltenden Rechtsystems besser einordnen und verstehen zu können, werden die deutschen Staaten (ab 1871 das Deutsche Kaiserreich) und Frankreich verglichen. Während die Form des Strafprozesses in Frankreich über alle politischen Umbrüche hinweg seit dem Ersten Kaiserreich relativ stabil blieb, gab es in den deutschen Staaten in der Mitte des 19. Jahrhunderts tiefgreifende Strafprozessreformen, die den bis dahin gültigen Inquisitionsprozess durch einen öffentlichen Geschworenenprozess französischer Prägung ersetzten. Das Anpassungsverhalten an das jeweils gültige Rechtssystem kann so von anderen lokalen Besonderheiten unterschieden werden.
Natürlich synthetisch – synthetisch natürlich. Die „unsichtbare Industrie“ der Aroma- und Duftstoffe, 1874-2020
Seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert prägt die Aroma- und Duftstoffindustrie durch ihre Innovationen zahlreiche weiterverarbeitende Industriezweige. Dessen ungeachtet handelt es sich um eine eher „unsichtbare Industrie“, welche kaum mit der Gesellschaft in Kontakt kommt. Ziel meines Projektes ist es, diese „unsichtbare Industrie“ sichtbar und in ihrer Spezifität zum Gegenstand wissenschaftshistorischer Forschung zu machen. Mein Dissertationsprojekt fragt aus drei Perspektiven nach den zugrundeliegenden Veränderungsprozessen, die vom Paradigma des Natürlichen zu dem des Synthetischen und wieder zum Natürlichen reichen. Erstens stellen sich Fragen nach gängigen Innovationsstrategien. Durch welche Faktoren wurden industrielle Forschung und Entwicklung angetrieben? Welchen Einfluss hatte der Wissenstransfer zwischen der industriellen Forschung und der akademischen Chemie auf die Innovationsprozesse? Zweitens wird aus der Perspektive der Marktgestaltung heraus nach den Strategien bezüglich der Vermarktung von Aroma- und Duftstoffen gefragt. Drittens folgt die Perspektive der Regulierung. Seit wann und wie wurden die Produktion und der Einsatz von Aroma- und Duftstoffen reguliert? Wie passte sich die Aroma- und Duftstoffindustrie an immer neue Gegebenheiten an? Mithilfe dieser drei Ansätze soll ein tieferes Verständnis dieser „unsichtbaren Industrie“ und ihrer Umwelt ermöglicht werden. Der Analysezeitraum erstreckt sich vom späten 19. Jahrhundert bis ins frühe 21. Jahrhundert und konzentriert sich vornehmlich auf den europäischen Raum.
Helmut Schelsky und das soziologische Feld der Bundesrepublik. Eine Wissenschaftsbiographie
Der Soziologe Helmut Schelsky (1912-1984) war einer der profiliertesten und bekanntesten Gesellschaftsdeuter der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Schlagworte, wie „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ oder „Die skeptische Generation“ waren bewusstseinsprägend für die sich neu formierende bundesdeutsche Gesellschaft. Aber nicht nur in gesellschaftspolitischer Hinsicht wirkte Schelsky prägend, auch auf die Institutionalisierung der Soziologie, d.h., auf ihre (Neu-)Formierung und Ausrichtung nach dem Krieg hatte er entscheidenden Einfluss (Sahner 1982, 1994).
Daneben wirkte er als Hochschulpolitiker und wurde zum Gründervater der Universität Bielefeld und des dort angeschlossenen ZiF (Zentrum für Interdisziplinäre Forschung). Zum Ende seiner aktiven Professorenlaufbahn nahm er in den frühen 70er Jahren Abschied vom Wissenschaftsbetrieb und wurde zum selbsttitulierten „Anti-Soziologen“ (Schelsky 1981). Polemisch, mit drastischen Worten und derb, geißelte er die gesellschaftlichen Umbrüche ausgehend von der 68er-Bewegung. Er blieb einflussreich, seine Bücher und Veröffentlichungen erreichten Höchstauflagen (u.a. Schelsky 1973, 1975), wissenschaftlich wurde er jedoch nicht mehr rezipiert.
Ziel und These des Dissertationsvorhabens ist es, den Gesellschaftsdenker Schelsky über seine Auffassungen zur Wissenschaft (neu) auszudeuten: Seine Vergangenheit als überzeugter Nationalsozialist, seine akademische Sozialisation im Geiste der „Leipziger Schule“ um Hans Freyer und Arnold Gehlen, sein wissenschaftspolitisches Engagement im Nachkriegsdeutschland als auch seine späte „Anti-Soziologie“ lassen sich so, so die zu belegende These, zusammendenken und miteinander verknüpfen.
Vergleichspraktiken in den molekularen Lebenswissenschaften
Meine Forschung konzentriert sich auf die Rolle von Analogien, Metaphern und Vergleichen in der Entwicklung der Lebenswissenschaften im späten 19. und 20. Jahrhundert. Im Kontext des SFB 1288 untersuche ich die Vergleichspraktiken und insbesondere die Konstruktion und Priorisierung von Vergleichshinsichten in der institutionellen Entwicklung der molekularen Lebenswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Im Fokus stehen hier die sich teilweise überlappenden Forschungsgemeinschaften der Biophysikalischen Chemie und der Molekularen Genetik sowie die Bedingungen ihrer Institutionalisierung in Deutschland, England und Frankreich.
(1) Täuschung, Enttäuschung und Verrat an der Nation. Die moralische Ökonomie des Bodenmarktes im östlichen Preußen (1886–1914) [Drucklegung der Dissertation in Vorbereitung]
Im Jahr 1886 ergänzte der preußische Staat mit der Gründung der „Königlichen Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen“ seine repressiven Maßnahmen gegenüber der polnischen Minderheit um eine Siedlungspolitik. Die Dissertation hinterfragt die gängige Forschungsmeinung, wonach die „Ansiedlungskommission“ noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gescheitert sei, weil es ihr nicht gelang, im östlichen Preußen deutsche Siedler in großer Zahl anzusiedeln. Durch eine normensoziologische Erweiterung des Konzepts der „moral economy“ (E. P. Thompson) und die Verbindung von kultur- mit wirtschaftshistorischen Ansätzen beschreibt die Arbeit die Schwierigkeiten, mit denen der Staat bei der Umsetzung seiner Politik konfrontiert war. Die Untersuchung zeigt aber auch, dass der Staat auf Widerstände flexibel zu reagieren imstande war und nach der Jahrhundertwende massiv in bestehende Eigentumsrechte für Grundbesitz eingriff. Im Ergebnis war die rechtliche Ungleichbehandlung der polnischen Minderheit sehr viel tiefgreifender als die Forschung bislang angenommen hat. Das preußische Beispiel ist repräsentativ für Prozesse der Nationalisierung von Eigentumsrechten, die später ganz Ostmittel- und Südosteuropa erfassten.
(2) Das Tagebuch des preußischen Kultusministers Robert Bosse (1892–1899) (Edition, zs. m. Lennart Bohnenkamp)
Robert Bosse (1832–1901) war der vierzehnte Minister des 1817 gegründeten preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (kurz: Kultusministerium). Seine Amtszeit (1892–1899) fällt in eine Phase turbulenten Wandels im Deutschland der Nach-Bismarck-Ära. Bosses Tagebuch bietet intime Einblicke in das politische Berlin, in Vergesellschaftungsprozesse (protestantischer) Eliten und staatliche Wahrnehmungsmuster der Bereiche Kultur, Kirche und Wissenschaft, die durch die Edition der Forschung zugänglich gemacht werden.