Krimstadt
Mit der Längsschnittstudie Kriminalität in der modernen Stadt können Entwicklungen devianten und delinquenten Verhaltens, deren (vornehmlich soziale) Entstehungsbedingungen sowie die Auswirkungen von Präventionsmaßnahmen und Kontrollinterventionen vom 13. bis zum bislang 30. Lebensjahr (in 2019) untersucht werden. Ein wichtiger Unterschied zu anderen, zumeist mit einem Querschnittdesign über einen längeren Zeitraum angelegten Untersuchungen ist die zu festgelegten Zeitabständen wiederholte Befragung derselben Personen (Panelstudie) Die hierdurch gewonnenen Informationen erlauben nicht nur eine Analyse der Unterschiede zwischen Personen oder Gruppen (interindividuelle Veränderungen), sondern auch eine Analyse individueller Entwicklungsverläufe (intraindividueller Veränderungen).
Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse findet sich in dem Artikel Vom Jugend- zum frühen Erwachsenenalter. Delinquenzverläufe und Erklärungszusammenhänge in der Verlaufsstudie Kriminalität in der modernen Stadt (Boers et al., 2014) sowie im Sammelwerk Delinquenz im Altersverlauf. Erkenntnisse der Langzeitstudie Kriminalität in der modernen Stadt (Boers & Reinecke, 2020).
Wesentliche Befunde
Die Begehung von wenigen und in der Regel eher leichteren bis allenfalls mittelschweren Straftaten ist im Jugendalter weit verbreitet und im Rahmen des Sozialisationsprozesses als weitgehend normal anzusehen. Dieses Ubiquitätsphänomen wird in den Duisburger Längsschnittdaten gut sichtbar. So berichteten in Duisburg 84 % der Jungen und 69 % der Mädchen, zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr zumindest schon einmal ein Delikt begangen zu haben (alle erfragten Delikte ohne Internetdelikte und Drogenkonsum); bei Gewaltdelikten (ganz überwiegend einfachere Körperverletzungen ohne Waffe) waren es ebenfalls hohe Anteile von 61 % bzw. 37 % (Abbildung 2).
Nach der weiten Verbreitung von delinquenten Handlungen im Jugendalter setzt ein sehr deutlich verlaufender Prozess der Spontanbewährung ein, der die Richtigkeit einer weitreichenden Diversion im Jugendstrafverfahren für Ersttäter und gelegentlich handelnde Täter unterstreicht. Bemerkenswert ist, dass im Dunkelfeld der Kriminalität die höchste Delinquenzbelastung erheblich früher als im Hellfeld erreicht wird. In Duisburg war dies schon zu Beginn des Jugendalters (14. bis 15. Lebensjahr) der Fall, während nach der polizeilichen Kriminalstatistik das Maximum erst gegen Ende des Jugendalters erreicht wird. Im Duisburger Dunkelfeld setzte der Rückgang schon ab dem 15. bis 16. Lebensjahr in einer Weise ein, dass spätestens ab dem 17. Lebensjahr das Delinquenzniveau geringer als im 13. Lebensjahr war. Bis zum 18. Lebensjahr verringerten sie sich auf die Hälfte oder gar ein Drittel (Abbildungen 3a und 3b). Damit ist im Dunkelfeld die höchste Delinquenzbelastung noch im letzten Jahr der Strafunmündigkeit und deutlich früher als im Hellfeld zu beobachten.
Die weitaus geringere Zahl von Intensivtätern zeichnet sich durch einen Delinquenzverlauf mit einer hohen Zahl an begangenen Straftaten, zumal von Gewaltdelikten, aus. Diese Gruppe ist mit ca. 6% im 14. bis 15. Lebensjahr zwar klein, berichtet aber die Hälfte aller Taten und über drei Viertel aller Gewaltdelikte ihrer Altersgruppe. Hinsichtlich der Intensivtäter wurde vor allem wieder in den achtziger und neunziger Jahren angenommen, dass diese bis tief in das Erwachsenenalter hinein delinquent bleiben, insbesondere jene, die schon im Kindesalter auffällig wurden. Wie in anderen Studien ging jedoch auch in Duisburg der Anteil an Intensivtätern, früher als bislang angenommen, ab dem 16. Lebensjahr zurück (Abbildung 4).
Die vier größten Verlaufsgruppen sind entweder nicht (43%) oder nur in geringem Maße auffällig (14 %), beginnen mit delinquentem Verhalten zwar frühbeenden es aber alsbald und verbleiben dabei fortwährend auf niedrigem Niveau (9 %) oder hören im weiteren Verlauf des Jugendalters mit dem Begehen von Straftaten auf (15 %). Letztere Gruppe der jugendlichen Mehrfachtäter erreicht mit durchschnittlich über fünf Delikten pro Lebensjahr zwar schon ein moderates Niveau und gehört damit nicht mehr zur Gruppe der typischen Spontanabbrecher, insgesamt ist deren Verlauf aber noch als entwicklungsadäquates Hinausreifen aus der Delinquenz anzusehen. Kriminologisch und kriminalpolitisch besonders bedeutsam sind die drei verbleibenden Gruppen der persistenten Intensivtäter (8 %), der früh abbrechenden Intensivtäter (6 %) und der späten Starter (6 %). Bei den am stärksten und über die längste Zeit aktiven persistenten Intensivtätern steigt die Inzidenzrate früh an und erreicht im 16. Lebensjahr ein Maximum von durchschnittlich 44 Delikten pro Person. Danach geht sie jedoch so stark zurück, dass sie im 19. Lebensjahr unter dem Niveau des 13. Lebensjahres liegt.
Eine solche Verringerung der delinquenten Intensität ist mit der Annahme einer lebenslang andauernden Delinquenz bei persistenten Intensivtätern („life-course-persistent offender“, „einmal Verbrecher, immer Verbrecher“) nicht vereinbar. Auch die verbreitete Annahme, dass eine frühe delinquente Auffälligkeit („early onset“) einer der besten Faktoren für die Prognose delinquenten Verhaltens sei, ist nach den Befunden der Verlaufsanalysen zu relativieren: Denn von all denjenigen, die im 14. Lebensjahr am stärksten belastet waren, hatte in Duisburg knapp die Hälfte (nach den internationalen Studien: auch bis zu zwei Drittel) schon ab dem folgenden Lebensjahr mit einem massiven Beendigung des delinquenten Verhaltens begonnen (früh abbrechende Intensivtäter). Zudem passen die in mehreren Verlaufsanalysen entdeckten späten Starter nicht zur Early Onset-Annahme. Sie fielen in Duisburg mit 6 % (in anderen Studien mit bis zu 15 %) erst ab dem 16. Lebensjahr auf und gehörten, wenn auch auf niedrigerem Niveau, vor allem im 17. und 18. Lebensjahr zur nach den persistenten Intensivtätern am stärksten belasteten Gruppe. Im 19. Lebensjahr war allerdings auch hier eine deutliche Verringerung der Tathäufigkeiten zu beobachten. Vergleicht man diese Befunde mit anglo-amerikanischen Studien, dann weisen die Verlaufsmuster der Delinquenz zwar eine große Ähnlichkeit auf. Allerdings scheinen bei allen Verlaufspfaden die rückläufigen Tendenzen in Duisburg früher einzusetzen.
Gewalt- und Intensivtäterschaften beruhen insbesondere auf der Zugehörigkeit zu delinquenten Gruppen, in deren Kontext delinquente Normorientierungen, delinquentes Verhalten sowie der Zusammenhalt der Gruppe wechselseitig verstärkt werden. Präventive Maßnahmen sollten sich speziell auf die Dynamik dieser Gruppen, deren Wert- und Normorientierungen sowie Handlungsalternativen an den Orten ihrer Aktivitäten, zum Beispiel im Rahmen von Straßensozialarbeit, konzentrieren. Auch wenn durch die erhebliche Dynamik des Delinquenzverlaufs die Prognose erschwert wird, so haben präventive Interventionen auch bei sehr delinquenten jungen Menschen empirisch begründete Erfolgschancen.
Wege in normkonforme Verhaltensweisen werden durch die Eltern, in der Jugendphase aber auch verstärkt durch die Schule aufgezeigt. Im Erlernen konformer Normorientierungen sowie sozial-adäquaten Konfliktverhaltens spielen sie eine herausragende Rolle als pädagogischer Präventionsraum. Dabei sind neben einer positiven Wahrnehmung der Schule vor allem die Beziehungen zwischen den Schülern und ihren Lehrern von besonderer Bedeutung. Es zeigt sich, dass schlechte Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern delinquentes Verhalten verstärken können. Schulische Präventionsarbeit sollte in erster Linie von den für eine Klasse verantwortlichen Lehrern geleistet werden, gegebenenfalls unterstützt und beraten durch externe Präventionsprojekte. Der Konsum von Gewaltmedien führt erwartungsgemäß zu keiner direkten Verstärkung der Gewaltdelinquenz, allerdings zu einer Verstärkung von Einstellungen, die gewalttätiges Verhalten befürworten. Um dieser Entwicklung entgegen zu wirken, ist sowohl eine pädagogische Begleitung des gewalthaltigen Medienkonsums als auch eine Vermittlung alternativer Medieninhalte für junge Konsumenten empfehlenswert.
Entgegen Eindrücken aus einigen anderen Untersuchungen erweist sich der Migrationshintergrund in Duisburg eher nicht als kriminologisch bedeutsam. Bei den Jugendlichen türkischer Herkunft bestehen stabile familiäre, schulische und nachbarschaftliche Bindungen. Auch die stärkere Befürwortung traditioneller und religiöser Wertorientierungen in dieser Gruppe, die häufig durch ein weniger risikoreiches Freizeitverhalten begleitet wird, erweist sich als tendenziell delinquenzhemmend. Ein wesentlicher Schlüssel zur Verringerung von Delinquenzrisiken bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist die Förderung der Bildungspartizipation. Je besser die Einbindung in das Bildungssystem gelingt, desto mehr verlieren Delinquenz und Gewalt an Attraktivität.
Das der Untersuchung theoretisch zu Grunde liegende Strukturdynamische Analysemodell unterscheidet zwischen eher indirekt wirksamen distalen (z.B soziale Schicht, soziales Milieu) und direkt wirksamen proximalen (z.B. delinquente Freunde, Delinquenz befürwortende Einstellungen) Erklärungsfaktoren. Dieses Modell konnte in Analysen mit den Duisburger Längsschnittdaten bestätigt werden konnten. Die Vermittlung sozialer Wertorientierungen, eine starke Bindung an die Schule und die Lehrer sowie die Akzeptanz rechtskonformer Einstellungen sind für die Entwicklung konformer Verhaltensweisen entscheidend. Demgegenüber zeigen sich zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr reziproke Beziehungen zwischen delinquenzorientierten Peergruppen, delinquenzbezogenen Einstellungen und der Entwicklung von Gewaltdelinquenz. Die Bedeutung dieses gewaltfördernden „Kreislaufs“ geht jedoch mit zunehmendem Alter zurück. Erste Analysen zum Übergang in das berufliche Leben weisen darauf hin, dass ein stabiles Ausbildungsverhältnis und ein daraus resultierender reibungsloser Übergang in das Erwerbsleben mit einem Rückgang delinquenten Verhaltens einhergehen. Gleichzeitig fördern diese Übergänge die Herausbildung normkonformer Einstellungen. Auch wenn noch gegen Ende der Jugendzeit teilweise intensives delinquentes Verhalten zu beobachten ist (vor allem bei den persistenten Intensivtätern und späten Startern), erweisen sich insbesondere Maßnahmen als sinnvoll, die den Jugendlichen den Weg in ein stabiles Ausbildungs- und Berufsverhältnis ebnen. Dabei scheint delinquentes Verhalten in der frühen Jugendphase einem erfolgreichen Übergang in die berufliche Ausbildung nicht im Weg zu stehen.
Anhand von Eintragungungen im Bundeszentral- oder Erziehungsregister (zwischen 14 und 20 Jahren) konnte untersucht werden, wie sich justizielle Maßnahmen auf die Delinquenzentwicklung auswirken. Es zeigte sich, dass die justizielle Kontrolle zu einer Schwächung konformer sozialer Bindungen und zu einer zunehmenden Orientierung an delinquenten Peergruppen führen kann, die sich wiederum verstärkend auf das Delinquenzverhalten auswirkt. Für die Strafverfolgung von Jugendlichen empfiehlt sich deshalb (nach wie vor), die strafrechtlichen Maßnahmen auf das Notwendigste zu beschränken.
Da auch im Jahr 2017 Daten der Panelteilnehmer erhoben worden sind und im Jahre 2019 weiter erhoben werden, kann künftig eine längsschnittorientierte Analyse der untersuchten Erklärungsfaktoren zur Delinquenzentwicklung für die gesamte Jugendphase und das Erwachsenenalter erfolgen. Neben der Untersuchung des Ausbildungs- und Erwerbsverlaufs wird unter anderem die Bedeutung formeller Kontrollinterventionen weiterhin zu berücksichtigen sein.
Siehe mit weiterführenden Verweisen folgende Projektpublikationen:
Boers, Klaus; Seddig, Daniel & Reinecke, Jost (2009): Sozialstrukturelle Bedingungen und Delinquenz im Verlauf des Jugendalters. Analysen mit einem kombinierten Markov- und Wachstumsmodell. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 92 (2/3), 267-288.
Boers, Klaus; Reinecke, Jost; Mariotti, Luca; Seddig, Daniel (2010): Explaining the Development of Adolescent Violent Delinquency. In: European Journal of Criminology, 7(6), 499-520.
Boers, Klaus; Reinecke, Jost; Bentrup, Christina; Daniel, Andreas; Kanz, Kristina-Maria; Schulte, Philipp; Seddig, Daniel; Theimann, Maike; Verneuer, Lena; Walburg, Christian (2014): Vom Jugend- zum frühen Erwachsenenalter. Delinquenzverläufe und Erklärungszusammenhänge in der Verlaufsstudie Kriminalität in der modernen Stadt . In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 97(3), 183-202.
Boers, Klaus; Reinecke, Jost (Hg.) (2019): Delinquenz im Altersverlauf. Erkenntnisse der Langzeitstudie Kriminalität in der modernen Stadt. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann (Kriminologie und Kriminalsoziologie, Band 20).
Weitere aktuelle Literatur zu den Ergebnissen der Studie „Kriminalität in der modernen Stadt“ kann hier abgerufen werden.