Das Bielefelder Standortprojekt im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern
In der Teilmaßnahme wird das ethnographische Beobachten als hochschuldidaktisches Instrument erforscht und konzipiert, um die professionelle Unterrichtswahrnehmung angehender Deutschlehrkräfte in Bezug auf fachdidaktische Inhalte und deren unterrichtliche Umsetzung zu trainieren. Dabei liegt der Fokus auf der Entwicklung von Seminarkonzepten und Materialien, welche beispielsweise im Rahmen des Praxissemesters oder des „Bielefelder Portfolio Praxisstudien“ eingesetzt werden können. Die Zielperspektive liegt auf der Entwicklung einer wahrnehmungsbezogenen forschenden Grundhaltung, welche im Besonderen die Sensibilität für sprachliche Heterogenitätsdimensionen beinhaltet. Durch begleitende qualitativ-rekonstruktive Forschung werden die konkreten Handlungspraxen Studierender im Umgang mit ethnographischen Beobachtungsaufträgen und Daten beschrieben und in Hinblick auf die Entwicklungsperspektive herausgearbeitet.
Videobasierte Gesprächsanalysen studentischer Interpretationsgruppen haben über beide Projektphasen hinweg gezeigt, dass ethnographische Beobachtungen und die anschließende interpretative Auseinandersetzung mit den Unterrichtsprotokollen besondere Herausforderungen, aber auch Professionalisierungspotenziale bereithalten. Vor allem in Bezug auf die Einnahme einer forschenden Haltung gegenüber dem Deutschunterricht können ethnografische Beobachtungen realer Unterrichtssituationen einen Perspektivwechsel herbeiführen. Darüber hinaus bietet die Interpretationsarbeit in Gruppen multiple Anlässe zur Reflexion über die eigenen Wahrnehmungskategorien und das eigene gegenstandsbezogene Fach- und Sprachwissen.
In Bezug auf die (Professionelle) Unterrichtswahrnehmung kann eine Sensibilisierung für die fachliche Mikrokultur ein Regulativ für die sonst stark auf allgemein-didaktische und pädagogische Phänomenbereiche fokussierte Wahrnehmung der Studierenden darstellen. Insbesondere der Einsatz linguistischer Beschreibungsinstrumente, wie die fachterminologische Unterscheidung der Sprachebenen oder das phonetische Transkriptionssystem IPA, führen im Kontext von teilnehmenden Beobachtungen zu einer stärker fachbezogenen Auseinandersetzung. Nichtsdestotrotz ist der intendierte Perspektivwechsel nur dann erfolgreich, wenn zuvor eine systematische Anleitung zur Wahrnehmungsreflexion und -steuerung erfolgt. Hierzu wurden im Projekt in der ersten Phase Materialien entwickelt und Seminarkonzepte mehrfach erprobt.
Rekonstruktive Analysen zeigen, dass bei der interpretativen Beschäftigung mit ethnographischem Material zu sprachlichen Heterogenitätsdimensionen im Deutschunterricht häufig Alltagskategorien und ad-hoc Zuschreibungen aktualisiert werden. Aus diesem Grund werden die Konzeptualisierungen ethnographischer Beobachtungen stärker auf die Beobachtung von sprachlicher Heterogenität im Unterricht und derer situativer Relevanz und Aushandlung durch die Akteure zugeschnitten – auch über die Fachgrenzen hinweg.
Mit Blick auf die Weiterentwicklung fachdidaktischer Gestaltungen Forschenden Lernens in der Lehrer*innenbildung sollen Materialien zur Anleitung ethnografischer Beobachtungen entwickelt und zur Verfügung gestellt werden. Im Rahmen von Beobachtungs- und Beschreibungsübungen sollen auch über die Sprachdidaktik hinaus Anwendungskontexte hergestellt werden, in denen Studierende ihre eigene Unterrichtswahrnehmung reflektieren und fachbezogen modifizieren können. Mit Blick auf die Implementierung hochschuldidaktischer Konzeptionen arbeiten bereits weitere Seminare in Vorbereitung und Begleitung des Praxissemesters in der Deutschdidaktik mit ethnographischen Beobachtungen (VPS und BPS). Perspektivisch kann so das ethnographische Beobachten als strukturelle Möglichkeit zur Vorbereitung beispielsweise von Studienprojekten angewendet werden. Gemeinsam mit der Sachunterrichts-, Sport- und Literaturdidaktik werden fachübergreifende Adaptionen entwickelt, die einen Einsatz von Beobachtungen mit dem Ziel reflexiver Praxiserfahrung fundieren und strukturell implementieren. Vor allem wird dabei der Fokus auf Heterogenitätsdimensionen im Fachunterricht gerichtet mit dem Ziel, dass Studierende diese im Rahmen von thematisch fokussierten Beobachtungssettings theoretisch reflektieren können.
Kern, F. (2020). Das Potenzial ethnographischer Fallarbeit für die Professionalitätsentwicklung angehender Lehrkräfte. In: H. Kotthoff & V. Heller (Hrsg.): Ethnografien und Interaktionsanalysen im schulischen Feld. Diskursive Praktiken und Passungen interdisziplinär (S. 221-246). Tübingen: Narr Francke Attempto.
Stövesand, B. (2020): Wahrnehmung und Forschendes Lernen. Die Rolle des professionellen Blicks im Kontext der Lehrerprofessionalität. In: M. Basten, C. Mertens, A. Schöning & E. Wolf (Hrsg.): Forschendes Lernen in der Lehrer/innenbildung. Implikationen für Wissenschaft und Praxis (S. 247-254). Münster: Waxmann.
Kern, F. & Stövesand, B. (2019): Forschendes Lernen in der sprachdidaktischen Lehramtsausbildung. PraxisForschungLehrer*innenbildung, 1 (2), S. 119-123.
Stövesand, B. (2019): Von der Beobachtung zur Reflexion – Die interaktive Emergenz fachdidaktischer und fachlicher Reflexionen zum Deutschunterricht. Herausforderung Lehrer*innenbildung, 2 (2), S. 38-56.
Kern, F. & Stövesand, B. (Hrsg.): Professionalisierung im Fach. Rekonstruktionen Forschenden Lernens in der fachdidaktischen Lehramtsausbildung. Herausforderung Lehrer*innenbildung (Themenheft).
Kern, F. & Stövesand, B. (2018): Zur kooperativen Analysepraxis im Forschenden Lernen in der fachdidaktischen Lehramtsausbildung. In: T. Tyagunova (Hrsg.): Studentische Praxis und universitäre Interaktionskultur. Perspektiven einer praxeologischen Bildungsforschung (S. 89-118). Berlin: Springer VS.