Die diesjährige Jahrestagung der Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung fragt nach den Dynamiken des Wandels pädagogischer Institutionen sowie nach den qualitativ-empirischen Möglichkeiten ihrer Erforschung.
Mit der Entstehung eines gesellschaftlichen Bewusstseins für die öffentliche Verantwortung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen zu Beginn der Moderne sowie mit der Durchsetzung von „Bildung als Bürgerrecht“ (Dahrendorf 1966) etablieren sich in den 1960er und 1970er Jahren Institutionen öffentlicher Bildung, Erziehung und Weiterbildung. Diese pädagogischen Institutionen gelten gemeinhin als träge soziale Ordnungen, die in der Ausübung normativer Kontrolle funktional sind für die Stabilisierung der Gesellschaft und die Bewältigung von Kontingenz. Assoziiert mit hoher Kontinuität sowie selbsterhaltender Reproduktion ist immer wieder auf die entlastende Funktion von Institutionen hingewiesen worden. Zugleich lassen sich zeitanalytisch und auf der Ebene von empirischen Untersuchungen auffällige Transformationen pädagogischer Institutionen erkennen.
So konstatiert Ulrich Beck bereits Mitte der 1980er Jahre, dass sich die Koordinatensysteme etablierter sozialer Einrichtungen in der Spätmoderne weitgreifend verändern, und in den vergangenen Jahrzehnten werden die Dynamiken etwa einer Kultur der „‚sanften‘ Selbst- und Sozialtechnologien“ (Bröckling 2017) oder einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) beobachtet, die sich auch und gerade institutionell sedimentieren. Die Kontinuität der Reproduktion von Institutionen scheint inzwischen gleichsam von dauerhaften Transformationen gebrochen zu werden: Dies zeigt sich beispielsweise hinsichtlich einer verschobenen Bedeutung von Konkurrenz unter Schulen (Helsper/Krüger/Lüdemann 2019), sich verändernder Strukturen im Kinderschutzsystem (z.B. Bode/Turba 2014; Dahmen/Kelle 2020), der organisationsübergreifenden Institutionalisierung von Ideen des lebenslangen Lernens (Nittel/Tippelt 2019) sowie sich wandelnder Familienbilder (Bauer/Wiezorek 2012; Ecarius 2018). Neben teils schnelllebigen programmatischen und strukturellen Reformbewegungen zeigen sich (subversive) Praktiken, die diese programmatischen Veränderungsprozesse alltäglich unterlaufen. Neue Zusammenschlüsse entstehen, die stärker performativen als formativen institutionellen Charakter haben können (Levin 2020). Diese Entwicklungen scheinen sich zudem durch kulturelle Transformationen wie die Digitalisierung und gesellschaftliche Pluralisierungsprozesse in allen Bereichen und nicht zuletzt aktuell im Kontext der Corona-Pandemie weiter zu dynamisieren. Der Diagnose einer Trägheit und funktionalen Persistenz von Institutionen entspricht die gegenwärtige Lage offenbar nicht mehr.
Hier stellen sich Fragen danach, wie sich die angedeuteten Dynamiken des Wandels pädagogischer Institutionen erforschen, beschreiben und analysieren lassen. Diese Fragen gehen auch mit der Thematisierung des Verhältnisses von Zeit- und Gegenwartsdiagnosen (Alkemeyer/Buschmann/Etzemüller 2019) und qualitativ-empirischer Forschung einher: Denn diese zeichnet sich im Allgemeinen dadurch aus, dass sie gegenüber gesellschaftlichen Zeitdiagnosen eher zurückhaltend ist (Bohnsack/Nohl 1998; Nohl 2016). Methodologisch wird dies häufig damit begründet, dass so eine vereinfachende Dichotomisierung von Gesellschaft auf der einen und den Individuen auf der anderen Seite vermieden werden soll. Handlungspraktiken und Lebensverläufe von Individuen oder sozialen Gruppen gilt es gerade nicht vorschnell nur als Ausdruck jeweiliger (‚subjektiver‘) Verarbeitungen gesellschaftlicher (‚objektiver‘) Gegebenheiten zu deuten. Insofern ist auch zu diskutieren, inwiefern gesellschaftliche und institutionelle pädagogische Gegebenheiten und deren Wandel überhaupt angemessen als Gegenstände qualitativer erziehungswissenschaftlicher Forschung konzeptualisiert werden können, ohne vorschnell zeitdiagnostische Deutungen zu ‚bedienen‘, sich diesen aber auch nicht zu verschließen.
Wir freuen uns über Beiträge, die Diskussionen zu diesen oder ähnlichen Fragen anregen und/oder Antworten geben:
Die Tagung wird im Onlineformat via Zoom durchgeführt.
Vorschläge zu Beiträgen können in Form eines Abstracts im Umfang von max. 2.500 Zeichen bis zum 30.03.2021 an Christine Demmer gesendet werden: christine.demmer@uni-bielefeld.de
Christine Demmer, Juliane Engel, Thorsten Fuchs und Christine Wiezorek
Wenn Sie beitragspflichtig sind, erhalten Sie nach der Anmeldung eine Rechnung an Ihre angegebene E-Mail-Adresse. Wir bitten Sie, den Tagungsbeitrag innerhalb von zehn Tagen nach Eingang der Rechnung auf das darin genannte Konto zu überweisen.
Nach Anmeldeschluss erhalten Sie eine E-Mail mit allen Informationen zum technischen Ablauf und zum Support.
Die Onlinetagung findet über Zoom statt. Mit der oben genannten E-Mail versenden wir einen Registrierungslink, mit dem Sie sich bei der Tagung registrieren können. Sie benötigen dafür nicht zwingend einen eigenen Zoom-Account.
Die Mitgliederversammlung der Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung und das Treffen des Promovierendennetzwerks werden über von der Tagung unabhängige Zoom-Zugänge eingerichtet. Auch hier erhalten Sie vorab alle nötigen Informationen in einer separaten Einladung zur Mitgliederversammlung bzw. in der Einladung des Promovierendennetzwerks.
12:00 | Digitales Ankommen |
12:15 | Begrüßung (Saskia Bender, Prodekanin der Fakultät für Erziehungswissenschaft) und inhaltliche Einführung (Christine Demmer) |
Moderation: Thorsten Fuchs | |
13:00 | Opening lecture: Claudia Machold/Anja Tervooren (Wuppertal/Duisburg-Essen): De/Institutionalisierung als Perspektive ethnographischer Forschung. Zur Analyse der Transformation und Tradierung pädagogischer Institutionen in der Kindheit |
14:00 | PAUSE |
Moderation: Jennifer Buchna | |
14:15 |
Amanda Edler/Anna Hontschik (Bielefeld): Kinderschutz im Wandel – Methodische Herausforderungen einer institutionellen Ethnografie im Feld der Frühen Hilfen |
15:00 |
Jessica Schülein (Köln): Zum Wandel der Institution Schule: Ganztagsschulkultur zwischen Anspruch und Wirklichkeit |
15:45 |
PAUSE |
Moderation: Burkhard Schäffer | |
16:15 |
Anna Carnap (Erlangen): Was ist (un-)denkbar? Fotogruppendiskussionen und die Möglichkeit, das Veränderungspotenzial pädagogischer Institutionen zu erforschen |
17:00 | Hiromi Masek/Ruprecht Mattig (Dortmund): Japanische Studierende an deutschen Hochschulen. Methodologische Reflexionen zum Problem des Übersetzens in der qualitativen Sozialforschung |
Moderation: Sina-Mareen Köhler | |
14:15 |
Maike Lambrecht (Bielefeld): Die sakrosante Schule. Latente Bezugnahmen auf „Schule“ im Kontext multi-religiöser Privatschulkooperationen |
15:00 |
Steffen Hamborg (Oldenburg): Instituierungen des Pädagogischen in sozial-ökologischen Transformationsbewegungen. Empirische Verortungen und zeitdiagnostische Rekonstruktionen |
15:45 | PAUSE |
Moderation: Sina-Mareen Köhler | |
16:15 |
Niels Uhlendorf/Ralf Parade (Berlin/Kassel): Subjektivierung von Bourdieu aus gedacht. Ein (Diskussions-)Beitrag zu den Möglichkeiten der qualitativen Erforschung von schulischem Wandel
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17:00 | Martin Hunold (Kiel): Der Wandel von pädagogischen Organisationen und die Ermöglichung von Lernen und Bildung durch organisationale Erziehung. Theoretische Reflexionen und empirische Rekonstruktionen |
18:15 |
Online-Kulturprogramm: Ausstellungsrundgang Hans Purrmann - Ein Leben in Farbe im Forum Stenner, Bielefeld |
19:45 | Treffen des Promovierenden-Netzwerks (Anmeldung erbeten über: promonetzwerkqbbf@dgfe.de) |
Moderation: Juliane Engel | |
09:00 |
Opening Lecture: Fabian Dietrich/Christiane Faller (Bayreuth): Coronakrise als Krise des Schulischen? Rekonstruktionen zur Transformativität pädagogischer Institutionen |
10:00 | Vortrag im Plenum: Sven Thiersch/Eike Wolf (Bochum): Pädagogische Institutionen zwischen Netzwerkrelation(ierung) und Systemerhalt – Gegenwartsdiagnosen zur digitalen Transformation im Lichte rekonstruktiver Bildungsforschung |
10:45 | PAUSE |
Moderation: Christine Wiezorek | |
11:15 |
Lea Puchert/Andreas Langfeld (Rostock): Jugendarbeit in Zeiten von Digitalisierung und Corona-Pandemie – Qualitative Forschung in einem transformativen Praxisfeld Sozialer Arbeit |
12:00 | Caroline Gröschner/Kerstin Jergus (Braunschweig): Zur Transformation politischer Bildung im Lichte digitalisierter Bildungsformate. Forschungsperspektiven und Theoriebezüge einer diskursanalytischen Erforschung des digitalen Wandels im Feld der politischen Bildung |
Moderation: Anna Moldenhauer | |
14:15 |
Julia Spitznagel (Bayreuth): Migration als Gelegenheitsstruktur für die Konstitution von Expertise bei Lehrkräften. Eine rekonstruktive Untersuchung der bildungspolitischen Reform ‚Qualitätsoffensive Lehrerbildung‘ |
15:00 | Wilfried Göttlicher (Brünn): Transformation der Institutionen – Kontinuität der Problemdeutung. Überlegungen zum Problemfeld Transformation, Tradierung und qualitative Forschung aus einer bildungshistorischen Perspektive |
15:45 |
PAUSE |
Moderation: Anke Wischmann | |
16:00 | Vortrag im Plenum: Heidrun Herzberg (Cottbus-Senftenberg): Zum Wandel pädagogischer Institutionen im Bereich der Pflege |
16:45 | PAUSE |
17:00 | Mitgliederversammlung |
Moderation: Christine Demmer | |
09:00 |
Opening lecture: Dorothee Schwendowius (Magdeburg): Migrationsgesellschaft und schulischer Wandel – Potenziale der Biographieforschung für die Analyse von Prozessen der Institutionalisierung und Transformation |
10:00 |
Vortrag im Plenum: Christian Timo Zenke (Bielefeld): Tradierte Transformation: Schule als Ort der (stetigen) Veränderung |
10:45 | PAUSE |
Moderation: Regina Soremski | |
11:15 |
Rebekka Hahn (Bielefeld): Wertbindungsnarrationen als Zugriff auf adoleszente Tradierungs-und Transformationsprozesse. Biographieanalytische Perspektiven im Kontext russlanddeutscher Familien und Gemeinden |
12:00 | Benjamin Bunk (Gießen): Verletzlichkeit und Institution. „Die Bewegung antwortet, oder …“ – Konflikte in sozialer Bewegung zwischen persönlichem Bezug und biographischer Bewältigung |
Moderation: Mirja Silkenbeumer | |
11:15 |
Ulrike Deppe (Halle-Wittenberg): Spuren der Organisation in den Biografien ehemaliger Internatsschülerinnen und -schüler. Exemplarische Erkundungen |
12:00 | Anne Bödicker (Marburg): Transformationsprozesse aus einer institutionellen Innenperspektive wahrnehmen: Schüler:innen einer Förderschule erzählen über die anstehende Öffnung ihrer Schule für Regelschüler:innen |