Als Geschlechterforscher_innen sind wir einem reflexiven Wissenschaftsverständnis. Zentral ist hierfür eine kritische Haltung gegenüber den unhinterfragten Selbstverständlichkeiten des Alltags sowie wissenschaftlicher Theorien und Denkmodellen und gegenüber den eigenen Standpunkten und der eigenen Position im Feld der Wissenserzeugung. Ein weiterer Aspekt dieses Wissenschaftsverständnisses ist der Fokus auf die historische Genese gesellschaftlicher Konstruktionen von Geschlecht in Wechselwirkung mit anderen Formen symbolischer Herrschaft, v.a. `Rasse´/Ethnizität, Klasse und Sexualität. Dieses Wissenschaftsverständnis bildet den gemeinsamen Orientierungsrahmen der Forschung im Arbeitsbereich Gender. Die einzelnen Projekte lassen sich zwei großen thematischen Feldern zuordnen: 1/ die Verschränkung von Gesellschafts- und Geschlechterordnung und 2/ die Bedeutung von Geschlecht für die Existenzweisen der Individuen.
Geschlechterforschung, so wie wir sie verstehen, geht von der konstitutiven Bedeutung von Geschlecht für die Entstehung und Reproduktion sozialer Ordnung aus. Die zentrale Frage ist, wie Gesellschafts- und Geschlechterordnung historisch je spezifisch und konkret miteinander verschränkt sind. Wie wirken sich die Transformationen in der Ökonomie und in den Geschlechterverhältnissen gegenseitig aufeinander aus? Wie sind verschiedene Kategorien symbolischer Herrschaft in diesen Prozessen der Produktion von Ungleichheit miteinander verbunden? Mit diesen Fragen knüpfen wir an nationale und internationale Debatten der Geschlechterforschung an (Stichworte sind u.a.: Neoliberale Regierungsweisen, Kommodifizierung von Care-Work, Care Chains, Prekarisierung, Entgrenzung und Subjektivierung der Arbeit, geschlechtliche Segregation des Erwerbsarbeitsmarktes). Ein Forschungsgegenstand von besonderem Interesse ist in diesem thematischen Forschungsfeld der Zusammenhang von Erwerbssphäre und Privatheit. Wie kann Fürsorge in Zeiten der Erwerbsarbeitszentrierung und Entgrenzung von Erwerbsarbeit gewährleistet werde? Wie kommt häusliche Arbeitsteilung zustande und welche Rolle spielen Staat und Privatwirtschaft dabei?
Ausgangspunkt ist die erkenntnistheoretische Annahme, dass Geschlecht keine Eigenschaft von Personen ist, sondern das Ergebnis eines nicht still zu stellenden, interaktiven Herstellungspro-zesses, der im Rahmen historisch spezifischer gesellschaftlich-kultureller Ordnungen stattfindet und eine unentrennbare Anforderung darstellt. In der berühmten Formulierung von Simone de Beauvoir ist dieses theoretische Verständnis auf den Punkt gebracht: Wir kommen nicht als Frauen oder als Männer zur Welt, wir werden es. Darin ist die strukturelle Ebene individueller Existenz ebenso enthalten wie die Annahme der Einzigartigkeit von Individuen. Geschlechtliche Subjekte bilden sich in der Auseinandersetzung mit der Umwelt auf je spezifische Weise. Dabei bleibt den Individuen das Geschlecht nicht äußerlich, es spielt sich nicht nur in unseren Köpfen ab. Geschlecht sowie die Anforderungen, die in unserer Gesellschaft an die Geschlechter gestellt werden, sind spürbar, erlebbar und deshalb im Hier und Jetzt für die Subjekte wirklich. Für die Untersuchung dieser somatischen oder auch leiblich-affektive Dimension des Geschlechts entwickeln wir am AB Gender aktuell eine neue Methode, die wir erlebensbezogenes Forschen nennen. Untersucht wird nicht nur, wie sich die gesellschaftliche Ordnung in die Körper einschreibt, sondern vor allem auch, wie der Eigensinn des leiblichen Erlebens von Geschlecht zu Veränderung und Neuem führt.