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Nicht ohne meine Einwilligung!

Ein Beitrag von Sarah Heide

Ein Vordruck für eine Patientenverfügung wird ausgefüllt. Es sind ein Ausschnitt des Formulars und eine Hand, die einen Stift hält, zu sehen.
Foto: Sarah Heide

Immer wieder wird in den Medien von Fällen berichtet, in denen es Uneinigkeiten zwischen Ärzt*innen und Angehörigen darüber gibt, wie am besten gehandelt werden sollte. Dieses Problem sahen wir 2004 im Fall von David Glass, einem schwer geistig und körperlich behinderten Jungen, dessen Zustand sich nach Komplikationen einer Operation im Krankenhaus rapide verschlechterte.

Davids Ärzte waren der Meinung, dass er nicht überleben würde und vermerkten in seiner Akte, dass er nicht wiederbelebt werden sollte – gegen den Willen von Davids Familie. In einer kritischen Phase wurde David entgegen der Wünsche seiner Angehörigen ausschließlich mit Morphium zur Schmerzlinderung behandelt. Sie bestanden weiter darauf, dass David wiederbelebt werden sollte, und gerieten in eine Auseinandersetzung mit den Ärtz*innen. Während dieses Streits um die Behandlung ihres Sohnes konnte Davids Mutter ihn erfolgreich wiederbeleben. Sein Zustand verbesserte sich, so dass er bald aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Davids Mutter brachte den Fall vor den europäischen Gerichtshof. Dieser entschied, dass das Ignorieren vom Willen des Patienten und seiner Angehörigen deren Rechte verletzt hatte.

Einwilligung in der medizinischen Praxis

Dieser Fall illustriert eine Paradigmenwechsel in der Medizin, der seit einigen Jahrzenten voranschreitet: Maßgeblich ist nicht, die Entscheidung der Ärzt*innen, sondern die der Patient*innen. Früher wurde eine medizinische Behandlung allein dadurch bestimmt, was die Ärzt*innen für medizinisch sinnvoll hielten. Jetzt ist der Patient*innenwille ausschlaggebend: Selbst überlebensnotwendige Eingriffe dürfe nicht ohne die Einwilligung der Patient*innen durchgeführt werden. Eine Ausnahme dafür sind Notfallsituationen, in denen schnell eine Entscheidung getroffen werden muss, sodass der Wille nicht in Erfahrung gebracht werden kann.

Die Einwilligung durch Patient*innen ist für medizinische Behandlungen also unabdingbar. Wird gegen den Willen der Patient*innen gehandelt stellt dies rechtlich eine Körperverletzung dar. Das klingt vielleicht drastisch, aber stellen Sie sich vor, jemand Wildfremdes schneidet Ihnen mit einem Messer in den Bauch. Das ist ohne Zweifel eine Körperverletzung. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie werden krank und müssen operiert werden. Für diese OP müssen Ärzt*innen Ihnen ebenfalls in den Bauch schneiden. Allerdings scheint dies keine Körperverletzung zu sein. Woher kommt also dieser riesige Unterschied? Eine verbreitete Antwort ist, dass Ihre Einwilligung eine moralisch verbotene Handlung in eine moralisch zulässige Handlung verwandeln kann. In der Philosophie spricht man davon, dass Ihre Einwilligung moralisch transformativ ist.

Nur gültige Einwilligung zählt!

Aber hat jede Einwilligung eine solche transformative Kraft? Nein, denn nicht jede Einwilligung ist auch eine sogenannte gültige Einwilligung. Nur eine gültige Einwilligung ist moralisch transformativ. Dafür gibt es in der Regel drei Bedingungen: Eine Person muss freiwillig einwilligen, ausreichend über die Handlung informiert sein und ausreichend entscheidungskompetent sein. Was bedeutet das für die Einwilligung in medizinische Behandlungen? Wenn eine Person durch Angehörige, die behandelnden Ärzt*innen oder ihr Umfeld unter Druck gesetzt wird, willigt sie unter Zwang ein. Da die Entscheidung nicht ihrem eigenen Willen entspricht, ist die Einwilligung in diesen Fällen nicht gültig.

Auch wenn eine Person im Vorhinein nicht ausreichend über eine anstehende Behandlung aufgeklärt wird, ist ihre Einwilligung nicht gültig. Ärzt*innen müssen also sicherstellen, dass die Person wirklich verstanden hat, warum die Behandlung durchgeführt werden sollte, was bei der Behandlung passiert, welche Risiken diese aufweist und welche Alternativen es gibt.

Außerdem muss eine einwilligende Person in der Lage seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Das bedeutet, dass sie vorausschauend versteht, welche Konsequenzen diese Entscheidung für oder gegen eine Behandlung für ihr weiteres Leben haben wird. Diese Entscheidungskompetenz muss zum Beispiel bei Kindern aber auch bei Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen im Vorhinein geprüft werden. Liegt diese Fähigkeit nicht vor, kann jemand stellvertretend für sie einwilligen und in ihrem Sinne entscheiden.

Einwilligung weiterhin nicht immer handlungsweisend

Im Fall von David Glass hat dies seine Mutter für ihn übernommen, da er durch seinen gesundheitlichen Zustand und seine Beeinträchtigung nicht in der Lage war selbst zu entscheiden. In den meisten Fällen, in denen eine stellvertretende Einwilligung notwendig ist, wird diese von bevollmächtigten Personen getroffen oder von gerichtlich bestimmten Betreuer*innen. Bei Minderjährigen sind die nächsten Angehörigen automatisch bevollmächtigt. Anthony Wrigley beschäftigt sich in seinem Aufsatz "Consent for Others" ausführlich mit dem Konzept der stellvertretenden Einwilligung.

Davids Mutter willigte also nicht in den Vorschlag der Ärzt*innen ein, David nicht wiederzubeleben und ausschließlich seine Schmerzen zu lindern. Das Handeln der Ärzt*innen entgegen ihrem und somit Davids Willen war demnach moralisch falsch und, wie der europäische Gerichtshof entschied, eine Verletzung ihrer Menschenrechte. Diese Haltung zu Gunsten des Patient*innenwillen ist heute in den meisten medizinischen Einrichtungen angekommen, auch wenn ein Blick in die Medien zeigt, dass dies noch nicht überall der Fall ist.

Quellen

Europarat (2004) Kampf einer Mutter um das Leben ihres Kindes führt zu besseren Leitlinien zur elterlichen Einwilligung in Behandlung [https://www.coe.int/de/web/impact-convention-human-rights/-/a-mother-s-fight-for-her-child-s-life-leads-to-better-guidance-on-parental-consent-to-treatment, 09.01.2023, 11:47]

Bullock, Emma C. (2018) Valid Consent, in: Müller, Andreas/Schaber, Peter (Hg.) The Routledge Handbook of the Ethics of Consent, London/New York: Routledge, S. 85 – 94.

Simon, Alfred (2022) Patientenautonomie und informed consent, in: Marckmann, Georg (Hrsg.) Praxisbuch Ethik in der Medizin, 2., aktualisierte und erweitere Auflage, S. 71 – 78.

Wrigley, Anthony (2018) Consent for Others, in: Müller, Andreas/Schaber, Peter (Hg.) The Routledge Handbook of the Ethics of Consent, London/New York: Routledge, S. 322 – 333.


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