2015 reiste die britische Schülerin Shamima Begum nach Syrien, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen. Dort unterstützte sie die Terrororganisation bis zu ihrer Festnahme und ihrem Transfer in ein Auffanglager in Syrien. 2019 entzog ihr die britische Regierung die britische Staatsbürgerschaft aus Gründen der nationalen Sicherheit.
Der Fall Shamima Begum ist exemplarisch für die Lockerung von Einschränkungen bezüglich des Entzugs der Staatsbürgerschaft in zahlreichen Staaten. Laut einem im März 2022 veröffentlichten Bericht des Institutes on Statelessness and Inclusion haben 37 Länder zwischen den Jahren 2000 und 2022 ihre Gesetze verschärft und es somit möglich oder leichter gemacht, ihren Staatsbürger*innen aus Sicherheitsbedenken die Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Über die Jahrzehnte hinweg wurde die Möglichkeit, jemandem die Staatsbürgerschaft zu entziehen, meist mit einem potenziellen Mangel an Loyalität begründet. Gerade Personen mit zwei oder mehr Staatsbürgerschaften wurden oft mit Misstrauen behandelt.
Was jedoch oft ignoriert wird, ist, zu welchem Maß der Entzug der Staatsbürgerschaft in die persönliche Identität der Betroffenen eingreift. Wenn die Staatsbürgerschaft gemeinsam mit der Kultur von den Eltern geerbt wurde, ist diese ein tief verankerter Bestandteil der Persönlichkeit einer Person. Diese zu entziehen, kann ein traumatisierendes und entfremdendes Ereignis darstellen. Gerade bei doppelten Staatsbürger*innen, welche oft Eltern verschiedener Nationalitäten haben, kann der Entzug einer der Staatsbürgerschaften mit dem Verlust des mit diesem Elternteil assoziierten Identitätsanteils verbunden werden. Personen mit nur einer Staatsbürgerschaft werden sogar ihrer einzigen Nationalidentität beraubt.
Vertreter des Entzugs der Staatsbürgerschaft begründen ihren Standpunkt manchmal damit, dass Personen, die Gewalt gegen ihren Staat ausüben, das Recht auf die Nationalität dieses Staates verwirkt hätten. Dies wirft jedoch die Frage auf, wieso dies nur bei politischer Gewalt der Fall sein sollte. Auch stellt Gewalt nicht immer eine generelle Ablehnung der Gesellschaft an sich dar. So ist es möglich, dass die Person ein symbolisches Zeichen setzen oder Strukturen ändern möchte. Sie kommuniziert also keineswegs implizit, dass sie ihre Staatsbürgerschaft ablehnt.
In der Tat stand es nie zur Debatte, Mitgliedern der IRA oder der ETA aufgrund ihrer politischen Gewalt die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Vielmehr hat der starke Fokus auf muslimische Personen, egal ob mono- oder binational, dazu geführt, dass der Entzug der Staatsbürgerschaft als zunehmend islamophob und rassistisch gesehen wird.
Den Entzug aufgrund einer durch Betrug erhaltenen Nationalität ausgenommen, wird sich seit dem neuen Jahrtausend meist auf die öffentliche Sicherheit berufen, wenn es darum geht, jemandem die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Nur durch den Entzug könne die Gefahr, die von der betroffenen Person ausgehe, gebannt werden.
Dieser Gedanke berücksichtigt jedoch keineswegs, dass der Entzug die Problematik nur verschiebt. Tatsächlich stellt der Entzug der Staatsbürgerschaft oftmals nur ein Mittel zum Zweck dar. Durch dieses soll eine Abschiebung ermöglicht werden oder der Person die Einreise in das Land, dessen Nationalität sie verloren hat, verweigert werden. Mit solch einer Handlung lädt der Staat lediglich die Verantwortung auf das Land, in welchem sich die Person gerade befindet, ab. Stellt diese tatsächlich eine Bedrohung dar, gefährdet das entziehende Land womöglich die Bürger*innen des anderen Staates.
Dies betrifft auch Personen, die über zwei Nationalitäten verfügen. Der schnellere Staat entledigt sich der Person auf Kosten eines anderen Staates und entledigt sich dadurch auch jeglicher Kontrolle über die angeblich gefährliche Person, obwohl, wie die Philosophin Patti Tamara Lenard argumentiert, Mittel wie Überwachung oder Haftstrafen effektiver sind. Der Entzug der Staatsbürgerschaft ist also hauptsächlich ein politisches Kalkül, bei dem es nicht um tatsächliche Sicherheitsbedenken geht.
Staaten, die zum Entzug der Staatsbürgerschaft greifen, verletzen nicht nur ihre Verantwortungspflicht gegenüber anderen Staaten, sondern auch gegenüber ihren eigenen Bürger*innen. So hat beispielsweise Großbritannien das Prozedere des Entzugs über die letzten Jahre immer intransparenter und unanfechtbarer gestaltet: Eine Person, der Home Secretary, entscheidet über den Entzug, ohne dass ein vorheriges Rechtsurteil notwendig ist. Gegen den Entzug, welcher sofort in Kraft tritt, kann zwar Einspruch eingelegt werden, jedoch nur vor Ort in Großbritannien. Aus diesem Grund wird der Entzug bewusst meist erst ausgeführt, wenn sich die Person im Ausland befindet.
Seit 2014 ist es möglich, eingebürgerten Brit*innen selbst dann die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn sie hierdurch staatenlos werden. Es müsse nur gewährleistet sein, dass die betroffene Person mit großer Wahrscheinlichkeit die Nationalität eines anderen Staates erlangen könne. Im Fall Shamima Begum argumentierte die britische Regierung, Staatenlosigkeit sei akzeptabel, da sie die Staatsbürgerschaft Bangladeschs beantragen könne. Die Regierung Bangladeschs streitet dies ab und droht ihr mit der Todesstrafe, sollte sie das Land betreten.
Seit 2022 muss die betroffene Person unter gewissen Umständen nicht einmal mehr über die Entscheidung informiert werden. Es entsteht folglich ein Bild eines übermächtigen Staatsapparates, gegen den einfache Bürger*innen nicht ankommen können. Die Tatsache, dass der Home Secretary allein die Entscheidung treffen kann, die Person meist im Ausland feststeckt, deshalb nicht befähigt ist, Einspruch einzulegen, und eventuell nicht einmal informiert wird, verstößt gegen die meisten prozeduralen Prinzipien und Schutzmechanismen, die uns aus Rechtsstaaten bekannt sind.
In Fällen, in denen der Entzug zu Staatenlosigkeit führt, sind sogar grundlegende Menschenrechte gefährdet. Ohne eine Staatsbürgerschaft ist es in den meisten Ländern kaum bis nicht möglich, eine Bildung zu erhalten, eine Arbeitsstelle zu finden, krankenversichert zu sein, zu reisen, oder auszuwandern.
Shamima Begum befindet sich nach wie vor in Syrien in Gefangenschaft und ist immer noch staatenlos. Ihre letzten Versuche, Einreise nach Großbritannien zu erhalten, um gegen den Entzug ihrer Staatsbürgerschaft vorzugehen, wurden abgeschmettert.
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