Weltvergleich und Weltwissen. Ethnographische (Reise-)Literatur und vergleichende Wissenschaften (1850 – 1950)
Das Teilprojekt untersuchte in der ersten Förderphase Vergleichspraktiken der Weltreiseliteratur vor allem im späten 18. und im 19. Jahrhundert. In engem Zusammenhang mit den zeitgleich entstehenden vergleichenden Wissenschaften bildete sich ein umfassendes Wissen über die Welt, das in der Reiseliteratur vor allem im Bereich naturkundlicher und ethnographischer Vergleichsoperationen aufgegriffen und transformiert wurde. Die zweite Förderphase erweitert die Fragestellungen des Teilprojekts, indem es den Blick von der Weltreiseliteratur auf die weitere Entwicklung und Institutionalisierung (ethnographischen) Weltwissens sowie auf die sich neu herausbildenden Zusammenhänge von (Reise‑)Literatur, vergleichenden Wissenschaften und Ethnologie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert richtet.
In einer ersten Teilstudie werden die Transformationen ethnographischer, reiseliterarischer und naturkundlicher Praktiken in wissenschaftliche Denkformen und communities of practice während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem im deutschsprachigen Raum, verfolgt. Das Forschungsvorhaben nimmt unterschiedliche ethnographische, völkerpsychologische und philologische Vergleichsoperationen in den Blick, die in Reiseberichten, wissenschaftlichen Abhandlungen und neu entstehenden Zeitschriften zirkulierten und sich zu Vergleichsformationen fügten.
In einer zweiten Teilstudie werden die Entwicklung und Rezeption des wissenschaftlichen Vergleichens in den communities of practice der französischen (Welt‑)Reiseliteratur und der Wissensdisziplin der Ethnologie zwischen 1900 und den 1950er Jahren untersucht. In Frankreich entstehen in diesem Zeitraum komplexe Vergleichsformationen im engen Austausch zwischen akademischer Ethnologie und ethnographisch orientierter (Reise‑)Literatur. In den Fokus tritt hier die experimentelle Herstellung und kritische Erprobung der ‚Komparabilität‘ unterschiedlicher (außer‑)europäischer Welten, die im Zusammenspiel von reiseliterarischen Erzählpraktiken, ethnologischen Schreibprojekten und künstlerischen Avantgarden verfolgt wird.
Ziel des gesamten Forschungsprojekts ist es, die Funktion der höchst unterschiedlichen Praktiken und Dynamiken des (ethnographischen) Vergleichens auf ihre Stabilisierung und Überprüfung in verschiedenen Vergleichsformationen hin zu untersuchen und deren Beitrag zur Herausbildung einer spezifisch europäischen Moderne sichtbar zu machen.
Das Projekt untersucht Praktiken des Vergleichens im Rahmen dokumentarischer und fiktiver europäischer Weltreiseliteratur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Von den vergleichenden Wissenschaften um 1800 bis zur Avantgarde-Literatur des 20. Jahrhunderts bilden die im Projekt untersuchten Weltreisenarrative ein privilegiertes Medium, in dem Vergleichspraktiken ein umfassendes Wissen über die Welt produzieren und verhandeln. In ihrer dokumentarischen, narrativen und ästhetischen Gestaltung übernehmen sie zentrale kulturelle Orientierungsleistungen, bringen zugleich jedoch die beunruhigende Dynamik der sich stets verändernden Welt der Moderne zum Ausdruck.