Was auch immer Ihr vorher gemacht habt, ob Abi, ein freiwilliges soziales Jahr, eine Ausbildung oder eine Berufstätigkeit, - wir wollen hier alle, die bisher noch nicht studiert haben, nicht nur willkommen heißen, sondern Euch auch ein paar Hinweise geben, die das ersetzen, was Ihr Euch in einem ‚normalen‘ Präsenzsemester durch Zuhören, Zusehen und Mitmachen erschließen würdet. Wir wollen versuchen, Euch ein bisschen zu erklären, was „Studieren“ eigentlich bedeutet, welche Grundideen, Haltungen und Praxisformen zum Studieren gehören.
Ziele: Wie Ihr studiert, hängt zunächst einmal von Euch selbst und von Euren Zielen ab. Vielleicht studiert Ihr ja, weil Ihr Wissenschaftler*innen werden möchtet. Vielleicht studiert Ihr, um einige der großen Probleme, die sich der Menschheit aktuell stellen, bearbeiten und bewältigen zu helfen. Vielleicht wollt Ihr Lehrer*in oder Richter*in oder Mediziner*in werden. Oder vielleicht wollt Ihr auch allererst rausfinden, was Ihr wollt. All das ist möglich und all das ist legitim.
Denken lernen: Studieren heißt, in neuen, eben fachlichen Formen, Denken zu lernen. Studieren heißt eben nicht, fachlichen Inhalte bloß aufzunehmen und danach zu ‚wissen‘ und wiedergeben zu können. Wer studiert, lernt, mit Inhalten und Gegenständen des jeweiligen Fachs umzugehen, ob das mathematische Formeln, rechtliche Prozeduren, Gesellschaftstheorien oder literarische Texte sind, und immer eigenständiger fachliche Fragen und Probleme zu bearbeiten. Es geht also um das Erlernen von Wissenspraktiken, nicht bloß um die Aneignung von Wissen. Und wichtig: Dabei geht es häufig nicht einfach um „Lösungen“, sondern ganz oft darum, weitere, neue Fragen zu entwickeln.
Nichts ist selbstverständlich: Studieren heißt, als eine Art Lehrling mitarbeiten zu lernen in der Wissenschaft, die das jeweilige Studienfach vermittelt. „Studere“ ist Latein und heißt „sich um etwas bemühen“, und ganz grundsätzlich sind an der Uni alle Studierende oder „Kommiliton*innen“ (Mitstreiter*innen), ob sie Professor*innen, Doktor*innen, Doktorand*innen oder Studienanfänger*innen sind. Alle streben in ihren Fächern nach (neuem) Wissen, und grundsätzlich gilt: Nichts ist klar oder selbstverständlich. Alles, was man da vorfindet, muss befragt und auch in Frage gestellt werden. Was bedeutet: Niemand erwartet von Euch, dass Ihr einfach schluckt, was gesagt wird, sondern alle sind entzückt, wenn Ihr befragt, was Ihr in den Seminaren, in den Texten Eurer Fächer, in den Laboren und hört, lest, seht und erfahrt. Das ist richtig und wichtig, schon um es genauer und besser zu verstehen.
Nachfragen und Zusammenarbeiten: Geht nicht einfach darüber hinweg, wenn Ihr etwas, was Euch wichtig erscheint, nicht oder nur halb verstanden habt! Fragt oder lest nach, sprecht mit Kommiliton*innen, denkt weiter, ja nehmt genau die Stellen, wo Euch etwas nicht ganz klar wird, zum Ausgangspunkt, um aktiv zu werden. Das ist im Grunde genau das, was Wissenschaftler*innen tun, und das Studium dient dazu, sich diese Art von fragendem Handeln anzugewöhnen und sich darin zu üben, das Unwissen spannender zu finden als das Bescheidwissen.
Denkzeug: Textentwürfe, Notizen, Skizzen Grafiken, Berechnungen ... Beobachtungen, Messungen, Gedanken, Fragen, Hypothesen, Ableitungen und Schlussfolgerungen zu Papier zu bringen ist in allen Wissenschaften (auch in ganz praktischen Laborwissenschaften) und somit in allen Studienfächern ein Königsweg des Wissen-Schaffens. Deshalb empfehlen wir Euch, alle Gelegenheiten, die Euch in Euren Lehrveranstaltungen geboten werden, um so etwas zu tun, beim Schopf zu greifen und Euch ins Vergnügen zu stürzen. Und denkt daran: Es ist damit wie beim Sport, z.B. beim Laufen. Manchmal denkt man, man kann nicht mehr. Manchmal tun die Denkmuskeln weh. Manchmal steht man vor der Wand. Aber wenn man weitermacht, weiter fragt, Rückmeldung nutzt, auch mal was riskiert, dann wächst man dran.
Nutzt die Zeit! Hängt Euch rein!
Am Anfang überwiegt das Zuhören, Erkunden und Nachlesen. Man hört zahlreiche neue Begriffe, Wendungen und Sprechweisen. Je nach Fachdisziplin, z.B. in Chemie oder in Soziologie, sind die ganz unterschiedlich. Vieles davon wird erst im Zusammenhang verständlich, und man ahnt, der Zusammenhang ist umfangreich und komplex und kann erst verstanden werden, wenn wir die Begriffe, Wendungen und Sprechweisen verstehen, die diesen Zusammenhang ausmachen. Manchmal fühlt sich das an wie ein Labyrinth mit lauter Sackgassen, aber irgendwo und irgendwie muss man anfangen. Je schneller man als Neuling in einem Fach einen Zipfel zu fassen bekommt und sich aktiv dazu verhält, desto früher beginnt man, sich die Zusammenhänge Schritt für Schritt zu erschließen. Das Mitschreiben in Veranstaltungen ist in diesem Sinne wichtig, um Gehörtes und Gelesenes festzuhalten, um damit weiterzuarbeiten, weiterzudenken und weiterfragen zu können.
(Mit-)schriften als Zwischenspeicher und Gedankenreservoir: Irgendwo anfangen, das bedeutet: Wörter nachsehen, Namen googeln, Nachschlagewerke nutzen, nachlesen, fragen und noch mal fragen. Und um das tun zu können, ist es notwendig, sich von dem, was man hört (und als Folien, Charts, Illustrationen sieht), so viel wie möglich aufzuschreiben, und zwar nicht nur, was man hört, sondern wenn möglich auch, was einem dabei durch den Kopf geht. Wenn wir angesichts der Fülle von sprachlich vermittelten Eindrücken nicht irgendwie festhalten, was wichtig ist oder scheint, bekommen wir keinen Fuß in die Tür. Festhalten heißt notieren. Notieren schafft die Grundlage, um aktiv werden zu können, um Fragen zu stellen, um Spuren zu verfolgen und manchmal auch einfach ... um pünktlich dort anzukommen, wo man hinwill.
Notizbuch, Kladde, Kalender, Smartphone, Tablet, Laptop ...: Am Anfang ist es sinnvoll, mit verschiedenen Medien des Mitschreibens zu experimentieren. Je nach Situation (Lehrveranstaltung, Bibliothek, eigener Schreibtisch) können unterschiedliche ‚Datenträger‘ praktisch sein. Generationen von Studierenden und Gelehrten haben mit Notizbüchern gearbeitet, die sie stets bei sich führten. Heute sind digitale Geräte dazugekommen. Tablets mit Notizprogrammen und entsprechenden Stiften, Smartphones, auf denen Sprachnotizen gespeichert werden können, oder der Laptop, der im Rucksack mitgeführt und ebenfalls zum Notizenmachen verwendet werden kann.
Und was mache ich mit den Notizen? Je nach Situation oder Projekt können die sich sammelnden Notizen ganz unterschiedlich verarbeitet werden. Viele Studierende gehen abends noch einmal durch ihre Mitschriften durch und überlegen, welche ToDos sich daraus ergeben. Z.B. etwas nachschlagen, jmd. etwas fragen, einen Text in der Bibliothek ansehen (und vielleicht auch dabei Notizen machen), irgendwo hingehen, sich zu einer Schulung anmelden usw. Im Laufe der Zeit kommen ja auch eigene Projekte hinzu. Studien- und Prüfungsleistungen zu spezifischen Themen, die dann das Zuhören, Recherchieren und Nachlesen leiten. Die Notizen und Mitschriften, die in diesen Zusammenhängen entstehen, können dann direkt in das jeweilige Projektdokument übertragen werden.
Alle wissenschaftlichen Disziplinen sind auf Texte angewiesen. Egal ob in den Natur-, Geistes- oder Sozialwissenschaften – wissenschaftliche Erkenntnisse werden in Textformen veröffentlicht und so den Kolleg*innen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Neues und altes Wissen erarbeitet man sich im Studium damit vorwiegend durch das Lesen von wissenschaftlichen Texten, denn auch Vorlesungen, Laborpraktika und Exkursionen bauen auf einer ausgewählten Menge von Literatur auf.
Während des Studiums wissenschaftliche Texte zu lesen bedeutet deswegen immer auch, als zeitweise Zuhörender einem Fachgespräch zu lauschen, das man nur ausschnittweise mitbekommt und nur begrenzt überschauen kann. Denn wissenschaftliche Texte sind – bei aller Originalität ihrer Autor*innen – immer nur Momentaufnahmen des riesigen Forschungsstandes des eigenen Studienfaches zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Das zu wissen muss aber nicht entmutigen, sondern macht vielmehr den Weg dafür frei, sich beim Lesen herausfordern zu lassen und eigene Strategien auszuprobieren. Die folgenden Tipps sollen dabei unterstützen und können je nach eigener „Lesehaltung“ kombiniert werden.
Mehrgleisig Lesen: Insofern wissenschaftliche Texte als Teil des Forschungsdiskurses auf andere Texte antworten, sie weiterdenken und sie kritisieren, steckt in ihnen mehr als nur reine Informationen wie bspw. in Sachtexten, die man aus der Schule kennt. Neben dem „Was“ wird in wissenschaftlichen Texten immer auch über das „Wie“ und „Warum“ gesprochen: Die Sachinformationen werden überhaupt erst verständlich – und der kritischen Kontrolle durch Kolleg*innen zugänglich gemacht – wenn zugleich nachvollzogen werden kann, wie die Forscher*innen vorgegangen sind und aus welchen Gründen sie diese oder jene Methode zur Bearbeitung dieses oder jenen Forschungsproblems angewandt haben. Beim Lesen wissenschaftlicher Texte kann man sich bei jedem Absatz (oder sogar Teilsatz!) fragen, ob gerade das „Was“, „Wie“ oder „Warum“ thematisiert wird. Das entzerrt, ordnet ein und entlastet – ohne alles gleichzeitig als neue Informationen verstehen zu wollen.
Sich die Fragen klar machen: Wissenschaftliche Texte beantworten in der Regel eine Fragestellung bzw. versuchen ein Forschungsproblem zu bearbeiten. Damit das gelingt werden frühere Fragen und Problemstellungen referiert, auf andere Methoden, Theorien, historische Quellen, Rechtssätze, Formeln usw. Bezug genommen und nicht zuletzt eine Menge anderer Texte verwiesen. In wissenschaftlichen Texten steckt für Leser*innen also viel mehr drin als lediglich eine Antwort auf die ursprüngliche Frage – und die kann schnell aus dem Blick verloren werden. Deswegen hilft es, sich am Anfang und während des Lesens deutlich klar zu machen, wie die Fragestellung des Textes lautet. Und davon können nochmal das eigene Interesse als Leser*in, das eigene Problem und alle damit zusammenhängenden Fragen unterschieden werden!
Mehrmals Lesen: Wissenschaftliche Texte sind keine Romane, sondern sie sind vorwiegend funktionale Texte. Sie haben keine Handlung mit einem Spannungsbogen, den man nach und nach präsentiert bekommt, damit man am Ende begeistert das Buch zuschlägt. Funktional sind sie, als dass man mit zunehmender Leseerfahrung und Fachkenntnis vorausahnen kann, welche Teile des Textes für die eigene Forschung wichtig sind. Das bedeutet auch, dass wissenschaftliche Texte nicht linear von Textbeginn bis Textende gelesen werden müssen, sondern Leseschritte vor und zurück gemacht werden – idealerweise so lange, bis man den Text verstanden hat. Wissenschaftliche Texte zu lesen heißt damit sie mehrmals zu lesen und in wechselnder Rhythmik, bspw. zuerst schnell zwecks des ersten Eindrucks und dann langsam, aber genau. Wichtig dabei ist, einen Überblick über die Gliederung des Textes zu behalten und eine grobe Übersicht davon zu haben, wann etwas erläutert oder erklärt wird.
Mit dem Text arbeiten: Wissenschaftliche Texte werden nicht nur aus reinem Lesegenuss gelesen, sondern um damit etwas tun zu können: Sich an Seminardiskussionen auf Grundlage der Literatur beteiligen, der Vorlesung besser folgen zu können, da diese sich auf mehrere verschiedene Texte stützt oder selbst einen Text zu schreiben. Das sind alles Tätigkeiten, die nach dem Lesen passieren, deswegen lohnt es sich, während des Lesens in welchen Formen auch immer Festzuhalten, was einem beim Lesen wichtig war, welche Kernaussagen der Text selbst Trifft (Argumente, Daten, Beweise, Kalküle…) und welche Unklarheiten oder Fragen beim Lesen aufgetaucht sind. Wie man das genau macht ist eine hochindividuelle Frage, alles von Unterstreichungen (am besten: Mehrfarbig je nach Wichtigkeit oder Themenbezug) bis zu Randnotizen. Die Hauptsache ist, sich nicht vom Text beim Lesen erschlagen zu lassen, sondern wild mit ihm zu arbeiten, d.h. ihn sich anzueignen.
Wer studiert, ist in allen möglichen Situationen Zuhörer*in. In Bibliotheksführungen, Vorlesungen, Übungen, Seminaren, Laboreinführungen, Tutorien ... überall wird vorgetragen und erklärt, es wird auf Literatur und auf Arbeitstechniken verwiesen, die man sich dann selbständig weiter erschließen soll, und es werden Gründe angegeben, warum und wozu es sinnvoll und nötig ist, die Dinge zu tun, die den Einstieg ins Studieren des jeweiligen Fachs ausmachen. In Bezug auf den konkreten Inhalt von Veranstaltungen wird sitzungsweise ein dichtes Netz von Fakten, Namen, Theorien, Perspektiven, Begriffen, Zusammenhängen, Daten und vieles mehr präsentiert. Das Problem dabei ist: Das alles ist denjenigen, die darüber sprechen (Lehrenden, Forscher*innen, Tutor*innen, Kommiliton*innen höherer Semester…) bereits selbstverständlich, weil es zu den Routinen des Faches und zum Alltag an der Universität gehört. Wichtig ist es deswegen, immer bereit zu sein, nachzufragen! Damit wechselt man von der passiven Rolle der Zuhörer*in zur aktiven Rolle der Diskussionsteilnehmer*in.
Durch Fragen teilnehmen: Forschungsprozessen liegen immer Fragen zugrunde und alle Wissenschaftler*innen entwickeln ihre Gedanken und kommen zu ihren Texten bzw. Ergebnissen gerade dadurch, dass sie nicht damit aufhören Fragen zu stellen. Nach einer gewissen Zeit nimmt man dann mehr und mehr an Gesprächen teil, in denen die Lehrenden – mit einigem Recht, weil sie als Forschende viel wissen und mitzuteilen haben – den umfangreicheren Gesprächsanteil haben. Auch hier hört man weiter zu, und dabei hat man eigene Gedanken und Fragen, manchmal erwidert oder kommentiert man, was man gehört hat, und irgendwann schließlich, z.B. wenn man ein Referat hält, ist man auch selbst die Person, die vorträgt und eigene Überlegungen zur Diskussion stellt. Ein Großteil dieser Diskussionen dreht sich um Fragen, die geklärt werden sollen oder die zu weiteren Fragen führen. Gemeinsam nähert man sich dann fragend immer mehr dem Gegenstand an, um den es geht. Um aktiv an Diskussionen und anderen Gesprächsformen in Veranstaltungen teilzunehmen, muss man also gar nicht konkrete Ergebnisse bereits im Hinterkopf oder die vermuteten Antworten parat haben! Das wissenschaftliche Gespräch ist in diesem Sinne ein ständiges Sich-Abarbeiten an immer mehr und immer schwierigeren Fragen. Das Fragen gehört also elementar zur Wissenschaft dazu – und kann genau wie alle anderen Forschungstechniken erlernt und geübt werden.
Gezielt fragen: In der Auseinandersetzung mit Texten, beim Hören von Vorträgen, Beobachtungen im Labor, ästhetischen Erfahrungen und allem Weiteren, was die Wissenschaften zu bieten haben, gibt es immer mehr Dinge, die man nicht versteht, als diejenigen, die unmittelbar einleuchten. Dabei ist es aber wichtig gezielt zu fragen. Das kann man vorbereiten: Was genau verstehe ich nicht? Ist es tatsächlich der ganze Text, der zur nächsten Sitzung gelesen wird? Wahrscheinlich sind es eher einzelne Absätze, bestimmte Argumente, unbekannte Begriffe oder einzelne Elemente eines Versuchsaufbaus, der Unklarheiten aufwirft. Es hilft deswegen so gut es geht einzugrenzen, wo Diskussionsbedarf besteht. Um der Sache noch näher zu kommen hilft es sich zu fragen, wieso man etwas nicht versteht. Möglicherweise fehlt es an Hintergrundinformationen, um nachvollziehen zu können, warum ein historisches Ereignis genau so beschrieben wird, wie es im Text geschieht. Vielleicht sind aber auch Ableitungen oder Rechenwege vorausgesetzt, die man noch nicht kennt.
Mathematische Anforderungen in Schule und Hochschule unterscheiden sich recht grundsätzlich. Etwas pointiert zusammengefasst: In der Schule geht es primär um richtige Lösungsverfahren, im Studium um die mathematische Formulierung wissenschaftlicher Zusammenhänge und die quantitative Auswertung experimenteller Vorgänge.
Es ist nicht leicht, in diese neue Welt mathematischen Arbeitens hineinzuwachsen. Da benötigt jede und jeder eine Menge Energie und Durchhaltevermögen – aber auch Hilfe und Unterstützung von Seiten der Lehrenden, Tutoren und Kommilitonen.
Bleiben sie optimistisch und viel Erfolg für den Einstieg ins universitäre Leben!