Das Bielefelder Standortprojekt im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern
Die professionsübergreifende Zusammenarbeit von Regelschullehrkräften mit Sonderpädagog*innen und anderen sozialpädagogischen Fachkräften stellt eine wesentliche Bedingung für das Gelingen schulischer Inklusion dar. Entsprechend gilt es, die angehenden Professionen bereits in der universitären Ausbildung auf diese Aufgabe vorzubereiten. Davon ausgehend wurde ein Seminar zur multiprofessionellen Kooperation konzipiert und aktuell auf ein digitales Format übertragen, das sich an Master-Studierende aller Lehrämter (mit und ohne sonderpädagogischer Ausbildung) sowie der Sozialen Arbeit und Beratung richtet. Zentrale Zielsetzungen des Teilprojekts sind die Erprobung und Evaluation des Konzepts sowie der Transfer an andere Hochschulstandorte.
Einen Überblick über das Seminarkonzept liefert auch dieser Flyer (PDF).
Flankiert wird das Lehrprojekt durch eine Begleitforschung. Diese verfolgt die Fragestellung, wie die Studierenden die Zuständigkeiten und Rollen sowohl ihrer eigenen als auch der anderen Professionen zu Beginn eines Seminars einschätzen und inwiefern sich ihre Einstellungen und Bereitschaften zu inklusiver Kooperation durch die Auseinandersetzung mit dem Thema sowie durch die Konfrontation mit den anderen Professionsgruppen nach dem Besuch eines Seminars verändern. Hierzu wurden während der ersten Förderphase Fragebögen (quantitativ/qualitativ) in einem Prätest-Posttest-Design mit Interventions- und Vergleichsgruppe eingesetzt (Hopmann, Demmer & Böhm-Kasper, 2017; Hopmann, Böhm-Kasper & Lütje-Klose, 2019). Darüber hinaus wurden jeweils im Anschluss an das Seminar leitfadengestützte, qualitative Einzelinterviews durchgeführt, um vertiefende Informationen zu Kooperations- und Professionalisierungsvorstellungen sowie zum Erkenntnisgewinn durch das Seminar zu erhalten (Demmer, Hopmann, Kluge & Lütje-Klose, 2019).
Wie die Analyse der längsschnittlich erfassten Daten zeigt, weisen die Studierenden (unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur Interventions- oder Vergleichsgruppe) vor dem Seminarbesuch stark positive Haltungen gegenüber einer inklusiven Schule sowie zum Stellenwert multiprofessioneller Kooperation auf. Entgegen der Erwartungen zeigen die quantitativen Daten der Prä-Post-Befragung nicht etwa einen Anstieg, sondern ein leichtes Absinken bzw. Stagnieren der Mittelwerte bezüglich der Einstellungen zur unterrichts- und schüler*innenbezogenen multiprofessionellen Kooperation in der Interventionsgruppe nach Besuch des konzipierten Lehr-Forschungsseminars (Hopmann, Böhm-Kasper & Lütje-Klose, 2019). Dies kann so gedeutet werden, dass zuvor bestehende, naive Vorstellungen durch die Konfrontation mit teilweise problemhaltigen Kooperationskonstellation und Daten relativiert und eine stärkere reflexive Haltung in Bezug auf die inklusive Kooperation angeregt wurde. Dies bestätigt sich auch in den qualitativen Befunden, in denen durch das Seminar intendierte Reflexionsprozesse der Studierenden sichtbar werden. Die Irritation von vormals idealistischen Haltungen, die Zunahme an Variabilität in den Einstellungen, die kritisch-reflexive Diskussion von Inhalten und nicht zuletzt die Bereitschaft, sich überhaupt mit den Relevanzbereichen anderer Professionen auseinanderzusetzen, prägen die Interview-Aussagen der befragten Studierenden (ebd.).
Während der aktuellen zweiten Förderphase steht die Vorbereitung, Umsetzung und Evaluation umfassender Transferaktivitäten im Vordergrund der Begleitforschung. Systematisch werden weitere Lehrende unterschiedlicher Disziplinen (Schulpädagogik, Sozialpädagogik, Sonderpädagogik) in die je multiprofessionell zusammengesetzten Lehr-Tandems integriert, die im Sinne eines train-the-trainer-Ansatzes die Konzeption am eigenen Standort umsetzen. Zudem wurde die Veranstaltung in ein digitales Format übertragen, das ebenfalls vergleichend evaluiert wird. Neben dem Seminarkonzept als Ganzem wird auch der Transfer einzelner methodischer Bausteine erprobt und evaluiert. Eine Weiterentwicklung erfolgt zudem im Austausch mit Lehrpersonen anderer Partnerhochschulen im BMBF-Netzwerk „Inklusion in der Lehrer*innenbildung“ sowie der Gesamthochschule Kassel und der Universität Siegen.
Im Hinblick auf eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung werden im Rahmen des hier vorgestellten Projekts die bislang oftmals getrennt voneinander geführten Diskurslinien um Inklusion und Kooperation zusammengeführt, indem die an inklusiven Ganztagschulen vorfindbaren akademischen Berufsgruppen (Lehrkräfte mit und ohne sonderpädagogischer Ausbildung sowie Sozialpädagog*innen) in einem gemeinsamen Seminar adressiert und eine explizite Thematisierung der Herausforderungen multiprofessioneller Zusammenarbeit stattfindet.
Ausgehend von der Annahme, dass eine inklusive Kooperation durch „Einigungsprozesse in der konflikthaften Dynamik von Annäherung und Abgrenzung in der Auseinandersetzung mit Anderen“ gekennzeichnet ist (Reiser, 2007, S. 99), verfolgt das forschungsorientierte Lehrseminar neben der Vermittlung von theoretischen Modellen und kooperationsfördernden/-hemmenden Rahmenbedingungen mehrperspektivische Auseinandersetzungsprozesse. Hierzu erhalten die Studierenden in Form unterschiedlicher didaktischer Settings und methodischer Zugänge, wie z. B. Fallarbeit, Rollenspielen oder Tandem-Hospitationen, die Möglichkeit, sich sowohl mit (Varianten) der eigenen (zukünftigen) Rolle als auch der jeweils anderen fachlichen Sicht auf eine inklusive Ganztagsschule auseinanderzusetzen.
Darüber hinaus wird neben der Schaffung eines inklusionssensiblen Lehrangebots die Professionalisierung sowohl von Lehrenden der eigenen als auch anderer Hochschulen angestrebt. Im Hinblick auf den Transfer der Lehrveranstaltung sollen Materialien, wie z. B. eine schriftliche Ausarbeitung des Seminarkonzepts und beispielhafte „Sitzungsentwürfe“, erarbeitet und im Rahmen des Zentrums für inklusionssensible Hochschullehre zur Verfügung gestellt werden. Hierzu ergänzend sind Workshop-Angebote für Hochschullehrende geplant, in denen beispielsweise die im Seminar verwendeten Methoden vorgestellt und diskutiert werden können.
Ausgewählte Publikationen:
Demmer, C., & Hopmann, B. (2020). Multiprofessionelle Kooperation in inklusiven Ganztagsschulen. In P. Bollweg, J. Buchna, T. Coelen, & H. - U. Otto (Eds.), Handbuch Ganztagsbildung (2., aktualisierte und erweiterte Auflage., p. 1467–1477). Wiesbaden: Springer VS.
Demmer, C., Hopmann, B., Kluge, J., & Lütje-Klose, B. (2019). Heterogene pädagogische Blicke? Multiprofessionelle Kooperation an inklusiven Ganztagsschulen als Thema in der Lehrer*innenbildung. In M. Esefeld, K. Müller, P. Hackstein, E. von Stechow, & B. Klocke (Eds.), Inklusion im Spannungsfeld von Normalität und Diversität. Band 2: Lehren und Lernen (S. 47 – 56). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag.
Hopmann, B., Böhm-Kasper, O., & Lütje-Klose, B. (2019). Multiprofessionelle Kooperation in inklusiven Ganztagsschulen in der universitären Lehre. Entwicklung inklusions- und kooperationsbezogener Einstellungen von angehenden Lehrkräften und sozialpädagogischen Fachkräften in einem interdisziplinären Masterseminar. In J. Gorges, B. Lütje-Klose, & C. Zurbriggen (Hrsg.), Themenheft: Herausforderung Lehrer_innenbildung – Zeitschrift zur Konzeption, Gestaltung und Diskussion: Bd. 2 Nr. 3. Lehrerinnen- und Lehrerbildung für die inklusive Schule – fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Ansätze (S. 400 – 421).
Hopmann, B., Demmer, C., & Böhm-Kasper, O. (2017). Multiprofessionelle Kooperationen in inklusiven Ganztagsschulen als Erfahrungs- und Reflexionsfeld angehender Lehrkräfte und sozialpädagogischer Fachkräfte. In N. Thieme & M. Silkenbeumer (Hrsg.), Die herausgeforderte Profession – Soziale Arbeit in multiprofessionellen Handlungskontexten (S. 95-106). Lahnstein: Verlag Neue Praxis.
Ausgewählte Vorträge und Workshops:
Lütje-Klose, B, (2020). Professionswissen und Lehrer*innenbildung: Heterogenität, Adaptivität, Inklusion. Arbeitskreis Qualität von Schule 26.2.2020 in Hamburg.