Elementar- und Primarbereich unterliegen in Deutschland derzeit einem starken Wandel: Kindertagesstätten werden zunehmend als Bildungseinrichtungen verstanden, in ministeriell erarbeiteten Bildungs- und Erziehungsplänen werden Elementar- und Primarbereich integriert betrachtet und zu Kooperation und gemeinsamer Verantwortung für die Bildungsprozesse der Kinder verpflichtet. Fast alle Bundesländer haben in den vergangenen Jahren die Einschulungsverfahren neu geregelt und die Schulanfangsphase (partiell) flexibilisiert, um Rückstellungsquoten zu senken und Fördermaßnahmen rund um die Einschulung zu stärken.
In Hessen (wie auch in anderen Bundesländern) gestaltet sich das Einschulungsverfahren zunehmend komplexer und involviert unterschiedliche (professionelle) Akteursgruppen. Im Spektrum der Bundesländer verfügt Hessen wie die meisten anderen Bundesländer über beide Optionen – ‚traditionelle’ Einschulung und flexible Schuleingangsstufe –; im Bereich der Rückstellungsregelungen repräsentiert Hessen die größte Ländergruppe, die Rückstellungen (in Vorklassen) nach wie vor aus unterschiedlichen Gründen ermöglicht.
Eine Spezialität des Einschulungsverfahrens in Hessen liegt darin, dass die Schulanmeldung seit 2010 bereits ca. 15 Monate vor der Einschulung erfolgt, um v.a. Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen früh erfassen und sie in einen sog. „Vorlaufkurs“ überweisen zu können, in dem sie bis kurz vor Schuleintritt eine Sprachförderung im Umfang von bis zu 15 Stunden pro Woche erhalten.
Die Schulgesetze der Bundesländer regeln zwar die Stichtage für das Eintreten der Schulpflicht und die Termine für die Schulanmeldungen, legen aber in aller Regel nicht fest, wie genau diese Anmeldungen und andere Termine im Rahmen des Einschulungsverfahrens vollzogen werden und welche Schuleingangsdiagnostiken dabei zum Einsatz kommen sollen. Die im Verlauf von Einschulungsverfahren eingesetzten Diagnostiken sind in der konzeptionellen Ausrichtung demnach sehr heterogen. Sie zielen auf die Überprüfung körperlicher, kognitiver, sozialer und motivationaler Voraussetzungen für den Schuleintritt und sind zugleich auf die Modalitäten der jeweiligen Schulen (z.B. Aufnahmekapazitäten, konzeptionelle Ausrichtung, Vorhandensein einer Schuleingangsstufe, Vorhandensein bzw. Erreichbarkeit von Vorlaufkursen und Vorklassen) verwiesen.
Vor dem Hintergrund des Strukturwandels von Elementar- und Primarbereich in allen Bundesländern sowie des Konsenses über die Notwendigkeit vorschulischer Förderung und der Absenkung von Rückstellungsquoten stellt das Forschungsprojekt am Beispiel des Landes Hessen die Frage, wie differenzierte Bildungsentscheidungen vor und am Schulbeginn organisational, verfahrensförmig und interaktiv hervorgebracht werden und wie dabei förderbezogene und selektive Aspekte miteinander vermittelt werden. Den Begriff der Bildungsentscheidungen wenden wir auf alle rund um die Einschulung zu treffenden Entscheidungen für die Bildungslaufbahnen der Kinder (unter Beteiligung von Eltern und institutionellen Akteuren) an, z.B. vorzeitige und fristgerechte Einschulung, vorschulische Förderung, Zurückstellung in Ersatzeinrichtungen wie die Vorklasse, Einschulung in Eingangsstufe oder Jahrgangsklasse, frühe Feststellung sonderpäd. Förderbedarfs u.a.
Ziel des Projekts ist es erstens, die heterogene Praxis der Einschulungsverfahren und der eingesetzten Eingangsdiagnostiken auf der Organisations-, Verfahrens- und Instrumentenebene zu explorieren, analytisch zu beschreiben und ggf. zu typisieren; zweitens die differenzielle Handhabung der Einschulungsverfahren und Eingangsdiagnostiken in je konkreten Einzelfällen zu analysieren und die Bildungsentscheidungen zu rekonstruieren.