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Fakultät für Erziehungswis­senschaft

Campus der Universität Bielefeld
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Kinderkörper in der Praxis

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Projektlaufzeit: 

  • 1. Förderphase: 02/2006 – 02/2008
  • 2. Förderphase: 02/2008 – 05/2011

Projektleitung: 

Projektmitarbeit: 

  • Dr.in Sabine Bollig
  • Dr.in Marion Ott
  • Dipl. Päd.in Julia Jancsó
  • Dipl. Päd.in Anna Schweda
  • Daniel Kettler
  • Corinna Zahrt-Omar

Assoziiert: 

  • Dr.in Rhea Seehaus
  • Dr.in Anja Tervooren

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Eine Ethnographie der Prozessierung von Entwicklungsnormen in kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen (U3 bis U9) und Schuleingangsuntersuchungen

In den letzten Jahren werden starke Verschiebungen im Bereich der Entwicklung von Kindern beobachtet: Immer mehr Kinder scheinen sich nicht mehr von selbst "normal" zu entwickeln. Die Statistiken zur Kindergesundheit weisen darauf hin, dass etwa jedes fünfte Kind in Deutschland als entwicklungsgestört gilt. Zeitgleich werden Vorstellungen normgerechter Entwicklung zunehmend individualisiert und ausdifferenziert, so dass die Eigensinnigkeit individueller Entwicklungsverläufe an Bedeutung gewinnt. Diese Prozesse lassen sich als Wandel in der diskursiven und praktischen Verfasstheit von Kindheit beschreiben. Die Diagnose, dass Entwicklungsstörungen zunehmen, bietet einerseits Anschlüsse an Arbeiten aus Kindheitsforschung und Medizinsoziologie, in denen auf die "Pathologisierung" und "Medizinisierung" der Kindheit hingewiesen wird. Andererseits verweist die Zunahme an entwicklungsdiagnostischen Instrumenten und die Konjunktur von Konzepten der Frühförderung auch auf Prozesse der Pädagogisierung der frühen Kindheit.

Vor diesem Hintergrund untersucht das Forschungsprojekt in kulturanalytischer Perspektive die soziale Konstruktion von "normaler" und "gestörter" Entwicklung und rekonstruiert Normalität im Kontext ihrer Entstehung. Kinderkörper werden dabei nicht als biologische Entität, sondern als ein Netzwerk heterogener Materialien und Ressourcen begriffen, das sich in sozialen Prozessen formiert.

Die Studie beschreibt und analysiert die Praxis der teilstandardisierten Kindervorsorgeuntersuchungen U3 - U9 und der ärztlichen Schuleingangsuntersuchungen. Anhand der Untersuchungen wird rekonstruiert, wie sich in Interaktionen der beteiligten Akteure (Ärzte und Ärztinnen, Arzthelferinnen, Eltern und Kinder) Differenzierungspraktiken vollziehen, die auf die "normale Entwicklung" von Kindern bezogen sind. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass erst die Hybridisierung der Teilnehmerperspektiven in situ darüber entscheidet, welche praktische Bedeutung Normen, die über die standardisierten Instrumente und Verfahren transportiert werden, in konkreten Fällen erlangen und welchen Handlungsbedarf die Untersuchungsergebnisse induzieren. Ziel ist es zu erforschen, wie Normen kindlicher Entwicklung praktisch prozessiert werden und Zuständigkeiten für die kindliche Entwicklung zwischen den beteiligten medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Professionen sowie den Eltern aufgeteilt werden. Das Forschungsprojekt setzt folgende Schwerpunkte: Ethnographie des Testens von Kindern, die Konstruktion von Risikokindern, das Spielen als Testressource und die interaktive Dynamik von pädagogischen und medizinischen Wissensordnungen in den kinder- und schulärztlichen Untersuchungen.

Methodisch umfasst das Forschungsprogramm teilnehmende Beobachtungen und ethnographische Interviews, Experteninterviews sowie Dokumenten/Instrumentenanalysen. Mit dieser sozialwissenschaftlich-ethnographischen Perspektive ist die Studie an der Schnittstelle von Kindheitsforschung, erziehungswissenschaftlicher Professionen- und Institutionenforschung, Genderforschung, Medizin- und Gesundheitssoziologie sowie den interdisziplinären Disability Studies situiert.

Durch eine Anschubfinanzierung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst (HMWK) wurde zudem eine inhaltliche Ausweitung des Projektes möglich. Mit dem flankierenden Forschungsprojekt "Geschlechterdifferenzierung in Kindervorsorgeuntersuchungen" konnte zeitnah auf die Einführung neuer geschlechterdifferenzierender Vorsorgeinstrumente in den Vorsorgeuntersuchungen reagiert und die Erweiterung des DFG-Projektes um diese Perspektive in die zweiten Förderlaufzeit vorbereitet werden.

Mit dem geschlechtertheoretisch erweiterten Forschungsprogramm wird die Gelegenheit aufgegriffen, einen Prozess der Transformation angewandter Wissensbestände und -objekte zu kindlicher Entwicklung zu beobachten, und zwar von einer (vermeintlich) geschlechtsneutralen hin zu einer expliziten geschlechtlichen Kodierung des in Instrumenten inkorporierten Wissens. Diese Transformation wird als rekursiver Prozess verstanden, der im Feld vermutlich nicht nur die gewünschten Effekte, sondern auch eigenwillige Nebeneffekte zeitigt, die beide beobachtet werden sollen. Dabei werden zum einen die Situationen erforscht, in denen die Geschlechterklassifikation schon zu den impliziten Ausgangsbedingungen zählt und zum anderen werden die Effekte (und Neben-Effekte) einer geschlechtskodierten Konstruktion normaler Entwicklung rekonstruiert, die durch die sukzessive Etablierung neuer Präventionsinstrumente hervorgerufen werden.

Es wird die Frage verfolgt, ob und in welcher Weise die Geschlechtskodierung im Bereich von Größen- und Gewichtsentwicklung in praktischen Prozessen auf andere Bereiche der Vorsorgeuntersuchungen 'abfärbt' und insgesamt evtl. deren (implizite) geschlechtliche Kodierungen aktiviert und forciert. Ziel ist eine differenzielle analytische Rekonstruktion der Praktiken der Geschlechterdifferenzierung im Rahmen der bundesweit durchgeführten kindermedizinischen Vorsorgeuntersuchungen, und zwar unter Anwendung der alten und der neuen Instrumente. Neben dem in Instrumenten verkörperten Wissen in Bezug auf Geschlechterdifferenzen gilt es dabei auch alltagstheoretische und implizite Formen des Wissens, die die Untersuchungspraxis strukturieren, zu erforschen.

Flankierend zum DFG-Projekt erarbeitet Dr. Rhea Seehaus eine Recherche zu Formen kindermedizinischer Vorsorgeuntersuchungen und Schuleingangsuntersuchungen im internationalen Vergleich. Fokussiert werden dabei die jeweiligen gesetzlichen Regelungen in einigen europäischen Ländern sowie die öffentlichen Debatten und die Einbindung der Kinder-Untersuchungen in den Kontext 'Public health education'. Die unterschiedlichen Untersuchungsinstrumente und Untersuchungsdokumente sowie ihr Zusammenspiel sollen dabei genauer analysiert werden. Gegenstand der Analyse sind die unterschiedlichen vorschulischen Vorsorgekulturen in ihrer materialen Ausgestaltung im internationalen Vergleich.

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