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Fakultät für Erziehungswis­senschaft

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KrisenBILDUNG

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Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf das Coronavirus und seine gesellschaftlichen Auswirkungen

5 Fragen an: Prof. Dr. Ullrich Bauer

Ullrich Bauer ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialisationsfor­schung und lehrt und forscht seit 2014 an der Uni Bielefeld zu den Themen Sozialisation, Bildung und Gesundheit. Er leitet des Zentrums für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI), aktuell ist er Dekan der Fakultät für Erziehungswissenschaft.

Heute ist man verleitet zu sagen: Die Virologen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es gilt sie aber … . Im Ernst, die Debatte hat eine Schieflage. Während wir öffentlich über Fußball in Corona-Zeiten diskutieren, dominiert allenfalls noch die medizi­nische Fachdebatte oder die der Ökonomie. Fragen, die Erziehungs- und Bildungsprozesse betreffen, kommen viel zu wenig vor. Eigentlich gilt das für die gesamte Perspektive, in denen die sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächer eine Rolle spielen. Ich denke, der Grund dafür betrifft zwei Seiten. Auf der einen Seite ist der Kredit für eine erziehungswissenschaftliche Perspektive in der öffentlichen Diskussion nicht besonders hoch, die Barrieren, überhaupt wahrgenommen zu werden, dafür umso höher. Auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass wir uns selbst zu wenig in die öffentlichen Debatten einbringen, also schon daran gewöhnt haben, dass wir wenig Gehör finden und uns zurückziehen.

Hier ist es eine ganze Reihe von Antworten, die man geben muss: Die Nicht-Beachtung der Perspektive von Kindern und Jugendlichen an allererster Stelle. Die reine Fokussierung auf funktionale Bildungs­prozesse, wenn wir über die nachwachsende Generation in der Krise sprechen. Die große Vernachlässigung der Lebenssituation in Familien, wenn die Abhängigkeit von den öffentlichen Betreu­ungs­angeboten existenziell ist. Bezogen auf das Bildungssystem ist dies alles natürlich noch deutlicher. Wir haben ein sehr konservatives Modell, in dem die Verantwortung der Familien für die Bil­dungs­prozesse sofort reaktiviert werden konnte. Ohne hier über die vielen Einrichtungen sprechen zu wollen, die sich unter den Bedingungen der Pandemie sehr viel Mühe gegeben haben und die Bedarfe von Schülerinnen und Schülern sowie ihre Eltern berücksichtigen, ist die Situation insgesamt dramatisch. Die Schulsteuerung hat fast weitgehend versagt. Bis heute existiert kein Monitoring, es gibt keine Sammelstellen zur wichtigen Information, die Informations­politik der Länder insgesamt, der Bezirksregierungen und der Schulträger ist absolut mangelhaft. Dann wurden jetzt die sehr hohen Kosten dafür erhoben, dass in den vergangenen 20 Jahren der Prozess der Digitalisierung fast vollständig verschlafen wurde. Schließlich ist es im Bewusstsein der Schule noch immer nicht angekommen, wie zerbrechlich die Lernsituation von Gruppen ist, die über nur wenig kulturelles und ökonomisches Kapital verfügen. Es ist ein großer Rückschlag, dass hier keine Initiativen entstanden sind, die sich um die besonderen Bedarfe von Schülerinnen und Schülern aus diesen Gruppen kümmern. Die Rückstände dieser Schülerinnen und Schüler werden nach dem Ende der erzwungenen Pause eklatant sein. Es ist mir ein Rätsel, wie so viele Lehrerinnen und Lehrer an den Bedarfen von so vielen Schülerinnen und Schülern vorbeischauen können. Diese Form der akzeptierten Marginali­sierung ist der weithin größte Mangel, den ich erkennen kann.

Natürlich sehen wir alle Chancen darin, dass wir mit der Krise ein deutliches Signal erhalten haben, Prozesse, die Bildung und Erzie­hung betreffen, neu zu denken. Das betrifft unser Fach im Besonde­ren. Mit Bezug auf die genannten Mängel werden jetzt viele neue innovative Vorschläge gemacht. Hier müssen wir als Disziplin mitwirken und dürfen auf keinen Fall davon ausgehen, dass es ein Selbstläufer wird. Viel zu groß ist die Gefahr, dass die Trägheit im System dazu führt, dass es eine Rückkehr in alte Bahnen gibt. Das wäre ein großes Problem. Wir haben jetzt die Chance, noch vor der Sommerpause und in den Sommerferien in den Bildungseinrichtun­gen die Vorbereitung auf neue Unterrichtsformate zu proben. Wir müssen einfach davon ausgehen, dass auch im neuen Schuljahr die meisten Formate hybrid sein werden, wir also nicht mehr ohne digitale Unterrichtsformate auskommen werden. Ich selbst habe als Lehrender an der Hochschule natürlich auch eine solche Entwicklung gemacht. Das ist an den Universitäten viel einfacher, unsere Infra­struktur ist ganz anders ausgebildet. Aber auch hier gibt es viel zu tun. Zu lernen, wie die Bedarfe von Studierenden aussehen könnten, wenn sie nicht mehr nach dem Muster der Komm-Struktur in unseren Institutionen „einfach da“ sind, ist schwer. Dass wir jetzt um Aufmerksamkeit unserer Studierenden ringen und attraktive Angebote machen müssen, die nicht mehr hinter verschlossenen Türen stattfinden, halte ich für eine große Chance. In diese Richtung versuche ich mich selbst zu entwickeln. Ich sehe hier in der univer­sitä­ren Lehre eine große Chance, um Angebote zu individualisieren und den Charakter von Massenbildung zu unterbrechen, analogen Formaten damit aber auch die Chance zurückzugeben, etwas Besonderes zu sein, das wir auch in besonderer Weise für die Interaktion mit den Studierenden nutzen.

Das ist überdeutlich, dass hier Handlungsbedarf besteht. Wenn wir es freundlich formulieren wollen, dann können wir sagen, im deutschen Bildungssystem hat – wenn auch leidlich – der quantita­tive Aufwuchs funktioniert. Zumindest dann, wenn wir auf die Hochschulen schauen. In qualitativer Hinsicht reiht sich Baustelle an Baustelle und die damit verbundenen Herausforderungen sind gerade durch die Zeit in der Pandemie deutlich geworden. Verbesserung der Chancenstrukturen und natürlich die Schaffung inhaltlicher Angebote, die den Herausforderungen unserer globalen Gesellschaft gerecht werden. Junge Menschen müssen darauf vor­bereitet werden, wie sie mit digitalen Lernformaten umgehen, wie sie richtig von falschen Informationen unterscheiden, wie sie aber auch der Verführung entgehen können, schnelle Erklärungen zu finden und schließlich natürlich – wie immer – die Ausrichtung auf Nachhaltigkeit. Eine Gesellschaft, die so fragil ist, dass sie sich nur stabilisieren kann, indem sie unaufhörliches dynamisches Wachstum produziert, kann nicht im Sinne einer Nachhaltigkeitsstrategie sein, in die sich auch unsere Disziplin stellen kann. Dieses Umdenken muss jetzt stattfinden. Es geht schon lange nicht mehr um den Gegensatz zwischen links und rechts, sondern um nachhaltige und gerechte Entwicklungen. Dass der Bildungsbereich und damit Bildungspolitik hier in der Verantwortung steht, ist doch jetzt deutlich denn je.

Freuen Sie sich auf eine Erziehungswissenschaft, die wieder in den Räumen der Universität stattfindet? Ja, dazu gibt es keine Alterna­tive. Alles, was wir in den eigenen vier Wänden machen konnten, ist getan. Jetzt gibt es ein großes Bedürfnis nach Austausch und direkter Kommunikation. Auch das ist unsere Disziplin, eben eine Wissenschaft vom und im Sozialen.

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