Susanne Miller ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik und lehrt und forscht seit 2008 an der Uni Bielefeld zu Fragen/Themen der Umgang mit Heterogenität im Unterricht, Herstellung von Bildungsungleichheit durch die Schule, Übergängen, Sachunterrichtsdidaktik. Sie ist seit 2016 Vorsitzende der Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe in der DGfE Sektion Schulpädagogik.
Die Beobachtung, dass die Virolog*innen, Epidemiolog*innen und Ökonom*innen (ich wähle mal diese Form, obwohl in den Talkshows tatsächlich ja überwiegend Männer auftreten) die öffentliche Wahrnehmung dominieren, teile ich. Für die allererste Zeit des Lockdowns, als wir alle von der Heftigkeit und dem Ausmaß der Ansteckung und der Krankheit überrascht waren, ist das sicherlich auch verständlich, aber grundsätzlich hängt dies mit gesellschaftlichen Interessen- und Machtverhältnissen zusammen, denn die Erziehungswissenschaft hat sich schon recht bald zu Wort gemeldet.
Dies kann man z.B. daran sehen, dass gleich im März/April 2020 verschiedene Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) Stellungnahmen verfasst haben, in denen sie schon sehr früh auf bestimmte Problemlagen, Gefahren und Forschungsfragen aus erziehungswissenschaftlicher Sicht aufmerksam gemacht und bildungspolitisch adressiert haben. Zu nennen ist beispielsweise die Sektion für Schulpädagogik, die Sektion Frauen- und Geschlechterforschung, die Kommission Sozialpädagogik, die Sektion Sonderpädagogik und die Kommission Pädagogik der frühen Kindheit. Aus dieser Aufzählung wird die Vielperspektivität unserer Disziplin deutlich, die zu der gesamten Breite pädagogischer Handlungsfelder und Akteursgruppen Expertise besitzt. Um es etwas konkreter zu machen, kann ich exemplarisch und ungeordnet einige Beispiele nennen, die die erziehungswissenschaftlichen Disziplinen in ihren Stellungnahmen ansprechen:
Außerdem waren Kolleg*innen – auch unserer Fakultät – sowohl für gutachterliche, wissenschaftlich fundierte Empfehlungen als auch von Medien angefragt. Im öffentlichen Diskurs scheint allerdings häufig die Meinung vorzuherrschen, es reiche, wenn man Betroffene in unserem Feld also Eltern, pädagogische Fachkräfte, Kinder und Jugendliche zu Wort kommen lässt.
Ich beschäftige mich ja schwerpunktmäßig mit der Grundschule als Institution und mit den Lehr- und Lernprozessen in der Grundschule. Unter dieser Perspektive hat sich für mich eindeutig gezeigt, dass insbesondere kleine Kinder und Familien in prekären Lagen keine Lobby haben. Mir ist aus der ersten Zeit der Krise noch ein kurzer Fernsehbeitrag in Erinnerung, der für mich prototypisch war: Es wurde ein Kind gezeigt, das jetzt den Geigenunterricht via Skype erhielt. Dann wurde noch der Blick in den gepflegten Garten gezeigt und eine zufriedene Familie, die es schafft, den Tag gut mit dem sog. Homeschooling zu strukturieren, also eine klare Mittelschichtorientierung.
Außerdem fand sich (in den anfänglichen Darstellungen eine klare Gymnasialorientierung, es standen bei Bildungsfragen fast ausschließlich die Belange des Abiturs im Vordergrund. Dass die Beschneidung sämtlicher Kinderrechte insbesondere für Kinder aus weniger privilegierten Familien aber extrem prekär war und weiterhin ist, wurde nur selten thematisiert. In der Grundschulpädagogik sind die spezifischen Bedürfnisse von Kindern der Altersgruppe von 5-12 Jahren aber bekannt, sie stehen am Anfang ihrer Bildungsbiographie, die Bildung wird hier grundgelegt. Wenn an dieser Stelle die Institution Grundschule ausfällt, hat das dramatische Folgen und natürlich immer besonders für die Kinder, deren Eltern nicht über das für die Kompensation notwendige ökonomische, kulturelle und soziale Kapital verfügen. Mehr als jedes fünfte Kind lebt in Deutschland in Armut und in prekären Verhältnissen, genau diese Kinder und Familien wurden und werden weiterhin allein gelassen, das ist ein Skandal. Hier hat unser gesamtes System auf sämtlichen Ebenen versagt. Natürlich gab es an den verschiedenen Stellen ein großes individuelles Bemühen, auch von Schulen und engagierten Lehrkräften, aber in so einer Lage darf und kann es nicht vom Zufall und dem individuellen Engagement abhängen. Und die Frage, wie strukturell und konzeptionell mit der weiterhin bestehenden Krise umgegangen werden soll, wird seitens der obersten Schulaufsicht nicht angegangen. Schon vor der Krise hat sich die Gründungsidee der Grundschule als „Schule für alle Kinder“ als Mythos erwiesen: Die Bildungsungleichheiten in und durch die Grundschule sind hoch und werden sich nun durch die Krise weiterhin extrem verstärken.
Was kann nun die Grundschulpädagogik in dieser Situation beitragen? Sie kann die genannten Problembereiche aufgreifen, zentrale und kritische Fragen stellen und sowohl aus ihrem bisherigen wissenschaftlichen Wissen als auch durch weitere Forschung versuchen, Antworten zu geben. Ein Teil der Fragen an und von uns als Disziplin ergibt sich durch die Besonderheit der Grundschule als „Schule für alle Kinder“ (der Anspruch besteht ja fort) und als erste Schule mit Kindern in einem besonderen Entwicklungsalter. Für die weitere Auseinandersetzung möchte ich exemplarisch einige Thesen formulieren, die aus Sicht der Grundschulpädagogik begründet sind, aber natürlich der weiteren forschenden Auseinandersetzung bedürfen und m.E. im bildungspolitischen Diskurs gemeinsam zwischen Wissenschaft, Bildungspolitik und der Schulpraxis weitergedacht werden sollten.
Tja, am Anfang fand ich es schon auch faszinierend zu sehen, was plötzlich alles ausfallen kann und es trotzdem weitergeht. Darin liegt ja auch eine Chance, nämlich zu erkennen, dieses schnelle Hamsterrad, in dem wir alle stecken, kann auch langsamer laufen. Das haben viele ja auch als absolute Entlastung empfunden, sämtliche Termine aus dem Kalender streichen zu können. Ich bin mir aber unsicher, ob diese Erfahrung tatsächlich als Chance genutzt wird, denn dann müssten wir ja grundsätzlich etwas ändern, das sehe ich noch nicht. Das System bleibt neoliberal und (fast) alle spielen mit. Eine andere Chance sehe ich darin, die Bedeutung des direkten menschlichen Umgangs wieder mehr wertzuschätzen. Gerade die Erziehungswissenschaft lebt vom Diskurs, wir brauchen die unmittelbare Kommunikation und das gemeinsame Leben und Lernen an der Uni zurück, durch diese Verlusterfahrung erhoffe ich mir, das wir alle dafür mehr kämpfen – quasi ab sofort, natürlich unter Berücksichtigung der bekannten Vorsichtsmaßnahmen. Es darf nicht zur Normalität werden, es als Luxus zu empfinden, Einzelgespräche mit Doktorand*innen direkt führen zu können oder in Aussicht zu haben, zumindest die Erstsemester*innen persönlich begrüßen zu können. Gesamtgesellschaftlich betrachtet gibt es natürlich auch viele Punkte, die wir nun dringend verändern müssten, aber leider bin ich da nicht besonders hoffnungsfroh, man denke nur an die Finanzkrise 2008. In persönlichen Gesprächen habe ich auch gelernt, dass durchaus auch Akademiker*innen weiterhin erwarten, dass die Wissenschaft eindeutige Lösungen und Wahrheiten verkündet. Mit widersprüchlichen Aussagen, Unsicherheiten oder Spannweiten haben sehr viele große Probleme. Das kennen wir ja bezogen auf unsere Disziplin schon lange, es macht es uns oft auch so schwer, aber jetzt haben alle vor Augen geführt bekommen, dass es auch in der Medizin so ist, vielleicht bewirkt das ja etwas.
Mich interessiert besonders, wie es nach den Sommerferien und im Wintersemester weitergeht. Die Antwort darauf kenne ich nicht, aber ich denke es ist und bleibt wichtig anzuerkennen, dass wir es mit einem länger andauernden Phänomen und langfristigen Auswirkungen zu tun haben, dass es sich lohnt, all den genannten erziehungswissenschaftlichen Einschätzungen, Anregungen und Fragen, die hier auf dieser Seite von den Kolleginnen und Kollegen geäußert werden, auch mit Nachdruck nachzugehen. Damit kommen wir zurück zum Anfang des Interviews, die Erziehungswissenschaft hat etwas zu sagen ☺.