zum Hauptinhalt wechseln zum Hauptmenü wechseln zum Fußbereich wechseln Universität Bielefeld Play Search

Fakultät für Erziehungswis­senschaft

© Universität Bielefeld

KrisenBILDUNG

Zum Hauptinhalt der Sektion wechseln
© Universität Bielefeld

Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf das Coronavirus und seine gesellschaftlichen Auswirkungen

5 Fragen an: Prof. Dr. Dieter Timmermann

Dieter Timmermann ist Professor (im Ruhestand) für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildungsökonomie, Bildungsplanung und Bildungspolitik und lehrt(e) und forscht(e) an der Universität Bielefeld zu Fragen/ Themen der Bildungsökonomie.

M. E. hat die Pandemie ein ganz entscheidendes Wissens- und damit auch Forschungsdefizit offengelegt: Wir wissen bisher kaum etwas über den Zusammenhang von Lernzeiten, Lerndauern und Lernintensität einerseits und Lernleistungen bzw. der Qualität der Lernergebnisse andererseits, genauer: zwischen längeren Schulschließungsphasen und Lernentwicklung. Zumindest habe ich in der Literatur, die ich in den letzten Tagen und Wochen gelesen habe, kaum etwas dazu gefunden. Und wenn es dazu aktuelles Wissen gibt, dann kommt es aus den Niederlanden, aus den Hattie - Studien und – das wird viele überraschen – aus der Bildungsökonomie. In einer niederländischen Studie wurde der an kognitiven Kompetenzen gemessene Leistungsstand von 350.000 Schüler*innen vor der Pandemie und nach den mehrwöchigen Schulschließungen während des ersten Lockdowns durch Leistungstests gemessen. Das Ergebnis besagte, dass im Durchschnitt das Leistungsniveau um 20% gesunken war, wobei ein noch mehr Besorgnis erregender Befund war, dass der Leistungsstand der Schüler*innen aus nichtakademischen Milieus gegenüber dem der Schüler*innen aus akademischen Milieus um 50% niedriger war. Alle bisher erschienenen nationalen wie internationalen Studien und Medienberichte, ob repräsentativ oder nicht, berichten von der wachsenden Schere der Ungleichheit der Lern- und Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit ihrer sozialen Herkunft (mindestens ein Elternteil ist Akademiker*in versus Nichtakademiker*innenfamilie) und der Stärke ihrer Lernleistungen (gemessen an den Ergebnissen von Leistungstests oder Abschlüssen). Ich kann nicht erkennen, dass die Pandemie Vorteile unseres Erziehungs- und Bildungssystems offengelegt hätte, eher Schwächen. Dazu zählen die relativ großen Gruppen/ Klassen und die Unterausstattung mit Erzieher*innen und Lehrer*innen, was zu frontalem Lehren/ Unterweisen und eher passiver Aufnahme des Gelehrten durch die Kinder und Jugendlichen führt. Aktivierendes Lernen in kleineren Gruppen und Verstehensprozesse, Kreativität und Selbstlernstrategien der Lernenden fördernde Lehr-Lernformate sowie eine angemessene Unterstützung durch Psycholog*innen und Sozialpädagog*innen sind eher selten zu finden. Hinzu kommt, dass die durch die Schulschließungen erzwungene Nutzung digitaler Lehr- und Lernmedien wie ein Tsunami über das gesamte Bildungssystem hinweg gefegt ist, sich eingenistet hat und einerseits die fehlende Ausstattung der meisten Bildungseinrichtungen und vieler Elternhäuser mit adäquater digitaler Technologie und angemessenen Lernräumen, andererseits die fehlenden Kompetenzen der meisten Erziehenden und Lehrenden sowie vieler Eltern im Umgang mit den digitalen Medien offenlegte.

Krisen zeigen ja in der Regel an, dass gewohnte Handlungs- und Verhaltensweisen, aber auch traditionelle Organisationen sowie Strukturen von Organisationen und Prozessen nicht mehr oder nicht mehr gut funktionieren, so dass die avisierten Ziele nicht mehr oder nicht mehr in der erforderlichen Qualität erreicht werden. Wenn diese Einsicht in das Bewusstsein tritt, kommt die Zeit für Veränderung, für Change, wie die Unternehmensberater*innen gerne sagen. Je nach Stärke des Tsunami und seiner Disruptionskraft wird ein mehr oder weniger radikaler Wandel der Strukturen und Prozesse der Steuerungs- und Verwaltungsmodalitäten des Bildungssystems und seiner Einrichtungen, der die Entwicklung und das Lernen der Kinder und Jugendlichen unterstützenden Prozesse und Strukturen sowie der Kompetenzen der Lehrenden und ihrer Ausbildung nötig. Die Chancen liegen darin, diesen Zwang zum Wandel zu erkennen, zu akzeptieren und in kreativen Prozessen von Versuch und Irrtum Lösungen zu suchen, welche zunächst versprechen und später gewährleisten, die Kompetenz- und Bildungsziele bestmöglich und zugleich wirtschaftlich effizient zu erreichen.

Gelernt habe ich in der Krise im Sinne einer Bestätigung früherer über Jahrzehnte stattgefundener Lernprozesse – und ich lerne es immer noch -, dass das deutsche Bildungssystem ein großes Beharrungsvermögen hat, das gilt insbesondere für das Schul- und für das Hochschulsystem. Es gibt ja ein Bonmot, welches besagt, dass zwei gesellschaftliche Organisationen über lange Zeiträume (z. T. über Jahrhunderte) ihre Strukturen und Prozesse nicht oder nur wenig geändert haben: die Kirchen und das deutsche Schul- und Hochschulsystem. Und in der Tat, die nicht so schmeichelhaften PISA-Ergebnisse haben zu einigen systeminternen Anpassungen und Maßnahmen geführt (z. B. Vergleichsarbeiten, länderweite Abschlussarbeiten, bundesweiter jährlicher Vorrat an Abituraufgaben, aus denen die Länder auswählen können), der Blick auf die deutlich besser abschneidenden Schulsysteme hat allerdings nicht zu einer möglichen Systemanpassung geführt. Das zu diskutierende Argument lautet: man kann schulsystemische Strukturen aus einem Land nicht in ein anderes Land übertragen.

Gelernt habe ich auch, dass wir in den Schulen und Hochschulen unsere Strukturen und Prozesse immer wieder in Abständen kritisch auf ihre Funktionalität und Qualität prüfen müssen. Das betrifft die Organisationstrukturen, die Organisationsprozesse, vor allem aber auch die Lehr-Lernformate, in denen sich jeweils bestimmte Lehr- und Lernstrategien begegnen und miteinander harmonieren sollen. Wir müssen uns immer wieder fragen, ob die Lernziele, die erreicht werden sollen, noch stimmig sind, ob die Lehrinhalte, Lehrmethoden und Didaktiken sowie die Lehr- und Lerntechnologien noch angemessen sind, um die Lernziele (die definierten Kompetenzen) zu realisieren. Und wir müssen uns immer wieder fragen, ob am Ende der Lehr-Lernprozesse Bildung steht und ob wir alle Kinder und Jugendlichen dabei vollwertig mitnehmen.

Die Uno hat jüngst geschätzt, dass pandemiebedingt 95% aller Kinder weltweit von Schulschließungen betroffen waren bzw. sind, die Coronakrise habe die größte Bildungsunter-brechung der Menschheitsgeschichte erzeugt. Die Lockdowns haben ja nicht nur zu den zeitweisen Schließungen aller Bildungseinrichtungen geführt, sondern auch große Teile des Wirtschafts-, des Kultur- und des Sportlebens lahmgelegt. Um die wirtschaftlichen Folgen in Gestalt von Arbeitslosigkeit, wirtschaftlichen Verlusten, Schließungen von Kultureinrichtungen, Bankrott oder Existenzgefährdungen von Unternehmen u. ä. zumindest z. T. aufzufangen, wurden nicht nur in Deutschland riesige Rettungspakete und Konjunkturhilfen, u. a. in Form des Kurzarbeitergeldes und der Überbrückungshilfen (u. a. auch für Studierende), verabschiedet. Abgesehen davon, dass damit eine hohe staatliche Verschuldung (von Bund, Ländern und Kommunen) verbunden ist, die nicht nur wegen des Aussetzens der Schuldenbremse höchst umstritten ist, sondern auch wegen der Frage, wie die Schuldenlast und von wem in späteren Jahren beglichen werden kann und soll, waren diese Pakete und Hilfen im Grundsatz richtig, um die schwerste Wirtschaftskrise seit 1929 aufzufangen.

Interessant ist, dass z. B. im Gegensatz zu den USA, wo vor allem der Hochschulsektor durch pandemiebedingte Schließungen von Hochschulen, Fakultäten, Studienfächern und Entlassungen von Personal (vorrangig befristetes Lehrpersonal, aber selbst Tenure-Professuren gekündigt wurden/ werden) betroffen war und ist, die Einrichtungen des deutschen Bildungssystems (die Kitas, die Schulen und Hochschulen) von ihrer organisatorischen Seite her in dem Sinne nicht betroffen waren, als keine Einrichtung pandemiebedingt geschlossen wurde und keine Mitarbeiter*innen (seien es Lehrende, sei es Dienstleistungspersonal) entlassen wurden. Betroffen waren und sind sie insofern, als die gesamte Lehr-Lernorganisation räumlich und methodisch-didaktisch radikal geändert werden musste (Homeschooling, flipped classroom usw.). Betroffen waren und sind die in den Einrichtungen Agierenden hinsichtlich ihrer Arbeitsabläufe, sowohl hinsichtlich der räumlichen Lehr- und Lernmöglichkeiten als auch mit Bezug auf die Gestaltung und Nutzung der Lehr- und Lernmedien, vor allem aber auch mit Blick auf die psychischen Belastungen und gesundheitlichen Folgen.

Wofür hätte die (Erziehungs)Wissenschaft ein an sie gerichtetes Rettungspaket einsetzen sollen/ können? Die Wissenschaft ist m. E. sehr selektiv gefördert worden, vorrangig und mit größeren Fördersummen bei der Entwicklung von Impfstoffen, welche vor dem Coronavirus schützen sollen. Ferner haben verschiedene kleine Forschungsgruppen an mehreren Hochschulen, z. T. einzelne Forscher*innen, Verlaufs- und Gefährdungsanalysen sowie -prognosen mithilfe von mathematischen Modellen entwickelt, die meist aus den laufenden Forschungsmitteln finanziert wurden, nicht aus Rettungspaketen. Wenn ein Rettungspaket für das Bildungssystem und für die Erziehungswissenschaft geschaffen worden wäre, hätte ich im wesentlich drei große Förderziele gesehen: a) die Ausstattung der Kitas, Schulen und Hochschulen sowie der Lehrenden und Lernenden (wo erforderlich) mit einer erstklassigen Ausstattung an digitaler Technologie und digitalen Lehr- und Lernmedien, ihre Versorgung mit Luftfilteranlagen und eine räumlich Umgestaltung der Lernräume, wo immer es möglich gewesen wäre oder ist. b) Förderprogramme zur repräsentativen Erforschung der Veränderungen der während der Schulschließungen sowie in den zwischenzeitlichen Öffnungsphasen praktizierten Lehr- und Lernformate im Hinblick auf ihre Formen, ihre Vielfalt und vor allem ihre Wirkungen auf die Lernenden in Bezug auf ihre verschiedenen Kompetenzen und deren Entwicklung (Kompetenzgewinne versus Kompetenzverluste) in Abhängigkeit von sozialem Hintergrund , Geschlecht, Migrationshintergrund, kognitives Leistungsvermögen und ggf. weiteren Faktoren. c) Förderprogramme zur repräsentativen Erforschung der Folgen des Wechsels zwischen Schulschließungen und Wiederöffnungen für die Befindlichkeiten, Gefühlsdispositionen und Verhaltensweisen der betroffenen Akteure (Kinder, Jugendliche, Geschwister, Eltern, Lehrer- und Erzieher*innen, Studierende, Hochschullehrende und Dienstleistende, sich weiter bildende Erwachsene und Dozent*innen der Erwachsenenbildung). Interessant wäre es natürlich auch zu wissen, welche Schlüsse sich aus diesen Forschungen für die zukünftige Entwicklung und Gestaltung des Bildungssystems und seiner Teilsysteme ziehen ließen.

Es ist natürlich kein Zufall, dass Virolog*innen, Epidemiolog*innen und Ökonom*innen die öffentliche Debatte um das Coronavirus bestimmen. Die ersten beiden Gruppen stehen mitten im vom Virus ausgelösten Krankheitsgeschehen als die kompetenten und „wissenschaftlich zuständigen“ Expert*innen. Die dritte Gruppe der Ökonom*innen steht im Zentrum der Beschreibung und Analyse der unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, insbesondere der Lockdownphasen. Die wirtschaftlichen Folgen werden ja täglich in den Medien und Talkshows diskutiert (Kurzarbeit, Entlassungen, Existenzgefährdungen von Unternehmen und Selbständigen Unternehmer*innen in bestimmten Branchen bzw. Tätigkeitsfeldern, riesige öffentliche Förderprogramme, öffentliche Verschuldung, Überbrückungshilfen usw.). Erziehungswissenschaftliche Befunde über die Folgen der Pandemie und ihrer Auswüchse für die Akteur*innen im Bildungssystem finden eher noch „im Verborgenen“, im Kleinen statt, man findet sie eher in den lokalen Tageszeitungen (z. B. Helen Knauf an der FH Bielefeld), z. T. auch in den überregionalen Zeitungen (SZ, FAZ, die Zeit), sie erzeugen aber bisher keine nachhaltigen Wirkungen auf den gesellschaftlichen  Diskussionsprozess. Der „Informationsdienst deutsche Wissenschaft“ berichtet in den letzten Wochen verstärkt über geplante oder begonnene empirische Forschungsprojekte in den Erziehungswissenschaften (z. B. am NEPS in Bamberg), aber es liegen noch keine Ergebnisse größerer Studien vor.

Ich kenne eine Ausnahme in diesem Forschungsfeld, die allerdings nicht von Erziehungswissenschaftler*innen getragen wurde und wird, sondern von Bildungsökonom*innen am Ifo-Institut (und LMU) in München. Dort wird seit mehreren Jahren das sog. Ifo-Bildungsbarometer erhoben. Im Rahmen des Ifo Bildungsbarometers werden regelmäßig 10.000 Personen zu Bildungsfragen und Bildungspolitik interviewt. In 2020 wurden in diesem Rahmen 1099 Eltern repräsentativ befragt, wie viele Stunden ihr jeweils jüngstes Kind vor und während der Schulschließungen während des 1. Lockdowns mit schulbezogenem Lernen, mit anderen kreativen Tätigkeiten und mit passiven Beschäftigungen verbracht hat1.

Die Evidenz ist klar: Die Schulschließungen haben zu einem deutlichen Rückgang der verbrachten Lernzeit geführt (durchschnittlich um 52%). Der Ausfall des Schulunterrichts konnte rein zeitlich nur in geringem Maße durch gesteigerte Lernaktivitäten zu Hause aufgefangen werden. Dies wird nach Geschlecht, Schulformen, sozialem Hintergrund und kognitiver Leistungsstärke der Kinder ausdifferenziert. Der im ersten Lockdown entstandene zeitliche Lernrückstand wird in langfristige qualitative kognitive Lernverluste transformiert, die den Modellanalysen zufolge für die heute betroffenen Kinder und Jugendlichen lebenslange Einkommensverluste von 2,5 bis 5,5% pro Jahr und für die deutsche Wirtschaft Wachstums-verluste von sage und schreibe bis zu 2,6 Bill. € haben könnten, wenn die Lernverluste nicht  - am besten durch eine nachhaltige Bildungsreform – aufgeholt werden.

Diese Modellrechnung, die keineswegs abwegig ist, allerdings in den Größenordnungen durchaus kritisch diskutiert wird, hat große Aufmerksamkeit in Wirtschaft und Medien erfahren und wird natürlich immer noch diskutiert. Es ist zu erwarten, dass es Folgestudien – auch aus dem Zentrum für Bildungsökonomik des Ifo Instituts - geben wird. Diese Forschungen firmieren aber nicht unter dem Label „Erziehungswissenschaft“, sondern unter „Bildungsökonomie“, die dort eher als Teil der Wirtschaftswissenschaft verstanden wird. Das macht aber auch deutlich, dass es möglicherweise ein Fehler der Bielefelder Fakultät für Erziehungswissenschaft war, die Bildungsökonomie durch Umbesetzungen einzustellen. Via die Bildungsökonomie hätte die Erziehungswissenschaft in der Pandemie zumindest eine Botschaft gehabt, die bundesweit gehört wird.


1 Wer mehr dazu erfahren möchte, kann von mir einen längeren Text bekommen.

Die Bildungspolitik sollte sich umgehend mit der Frage der langfristigen Folgen der Pandemie und ihrer Wirkungen auf das Bildungssystem und über das Bildungssystem auf andere gesellschaftliche Teilsysteme, insbesondere, aber nicht nur, auf die Wirtschaft, befassen. Dabei könnte/ sollte man sich auch zunehmend von der Pandemieperspektive lösen und die generelle Frage verstärkt beforschen lassen, a) wie Lernrückstände/ Lernverluste aufgeholt werden können, und b) wie Lernen (und damit Lehren) grundsätzlich effektiver gemacht werden kann. In diesen beiden Fragen ist Disruption des bestehenden Systems versteckt: welche Organisationsstrukturen, Personalstrukturen, Ausbildungsprozesse für die Erziehenden und Lehrenden, Bildungstechnologien und Medien, Lehr-Lernformate im Hinblick auf Inhalte, Methoden und Didaktiken dienen diesen Zielen. Die höhere Effektivität darf sich allerdings nicht nur einfach auf das Wirtschaftswachstum an sich, sondern auf ein grünes und nachhaltiges Wachstum richten, das uns die Erde mit ihrer Artenvielfalt erhält. Aufgabe der Bildungspolitik bestünde dann darin, die Umsetzung dieser Erkenntnisse in praktisches erzieherisches und pädagogische Handeln in den Bildungseinrichtungen möglichst schnell zu ermöglichen.

Zum Seitenanfang