Dr. Johannes Tschapka ist Lehrbeauftragter für besondere Aufgaben an der Fakultät für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Praxissemester und lehrt und forscht seit 2017 an der Uni Bielefeld zu Fragen/Themen der kritischen Auseinandersetzung und Bildungsphilosophie im Praxissemester und mit Cultural School Studies in Schulsystemen weltweit, speziell in Ost-Asien und Lateinamerika. Vor Bielefeld arbeitete er an der Seoul National University, Beijing University und PHBern, sowie am österreichischen Bundesministerium für Bildung und der Schweizer Erziehungsdirektorenkonferenz.
Alle hatten an den Folgen von Schulschließungen, Homeschooling und leeren Universitätssälen mitzutragen: Kinder, Eltern, Studierende und auch wir an der Fakultät selbst. Mein Verdacht war nur von Beginn an, dass es nicht vorbei ist – nicht vorbei sein kann. Nicht, weil die berechtigten Sorgen der Menschen unwichtig wären, sondern weil ich berufsmäßig kritisch sein sollte gegenüber Krise als Chance Ratgebern. Es ist wie in dem Roman von Douglas Coupland1 aus den 1990er Jahren. Einer der Protagonisten in dem post-katastrophen Szenario sagt: „Warum, zum Teufel, bist du immer so negativ?“ und sein Freund antwortet: „Ich? Ich denke, realistisch wäre zutreffender.“
Ullrich Bauer2 hat in der KrisenBILDUNG schon konstatiert, wie fragil Gesellschaft ist – immer schon war – und besonders seit den 1990er Jahren „sich nur stabilisieren kann, indem sie unaufhörliches dynamisches Wachstum produziert.“ Ich teile Bauers Sicht, was die Problemlagen betrifft, aber zweifle, was das Umdenken betrifft. Gedacht wird anders und auch woanders.
Konkret: Im Juli wurde ich von einer Indonesischen Universität zu einem Webinar gebeten. Die offizielle Ansage der indonesischen Regierung ist „die neue normale Ära“ nach Corona. Ich habe mich automatisch gefragt, was war vor Corona schon normal? Oder anders, ist nicht gerade das Normale schon das Fragwürdige? Damit reihe ich mich nicht in eine Riege von Kulturpessimisten ein, sondern stelle in der Erziehungswissenschaft – und gerade dort – die Frage nach der Normalität. Ist es nicht eines der Probleme der Pädagogik, dass wir, wie Bernhard Waldenfels es schon der Psychologie als Wissenschaft unterschob, eine reparierende, rekonstruierende und mal auch verbessernde Normalisierungsinstanz3 sind?
Ich glaube deshalb nicht, dass wir den Fokus verschieben müssen, sondern eher darauf achten, bisherige Fragen konsequent weiter zu verfolgen und das verschlungenen Feld4, welches Forneck unter anderen angegangen ist, genealogisch, bildungstheoretisch und immanent kritisch aufzuspüren.
1 Coupland, D. (1991). Generation X. Tales for an Accelerated Culture. Abacus.
2 Prof. Dr. Ullrich Bauer (KrisenBILDUNG 22.06.2020) „Eine Gesellschaft, die so fragil ist, dass sie sich nur stabilisieren kann, indem sie unaufhörliches dynamisches Wachstum produziert, kann nicht im Sinne einer Nachhaltigkeitsstrategie sein, in die sich auch unsere Disziplin stellen kann.“
3 Waldenfels, B. (1998). Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2. Suhrkamp. Zitiert aus Seite 101: Eine Wissenschaft, die sich darauf beschränkt, zu rekonstruieren, zu reparieren und eventuell zu verbessern, wird – ob sie will oder nicht – zu einer Normalisierungsinstanz unter anderen, und dies im doppelten Sinne, daß sie Normalisierung voraussetzt und solche (wieder-)herstellt. (kursiv im Original)
4 Forneck, H.J.; Wrana, D. (2003). Ein verschlungenes Feld. Eine Einführung in die Erziehungswissenschaft. W. Bertelsmann.
Das interessante ist vermutlich nicht, was dabei meine Ansicht ist, auf die keiner hören wird, sondern wo genau die entscheidenden Ansichten entwickelt werden und welche dieser Ansichten direkten Einfluss auf die Pädagogik in Zukunft haben werden – weil darauf zielt eine Sci-Fi Frage ja ab.
Stellen wir uns also ein Klassenzimmer vor, oder eben wie zu Corona ein Home-Schooling, wo Mikrophone, fest installierte Kameras und Body-Cams die Performanz der Kinder aufzeichnen und Big Data Computer diese analysieren. Jedwede Regung, jede Mimik der Gesichter und jedes gesprochene Wort wird dahingehend ausgewertet, was genau die Lerndefizite, die emotionalen Störungen sind, und welche individualisierten Lernprogramme daraus resultieren. Auf dem Tablet jedes Kindes erscheint dann, aus der Masse der Big Data Analysis algorithmisch gewonnen, das individualisierte Lernprogramm oder der gerade notwendige, emotionale Zuspruch.
Ben Williamson5 berichtet dies 2017 nicht als Sci-Fi, sondern als Bericht von Programmen, welche von Organisationen wie die OECD und das World Economic Forum seit einigen Jahren Unterstützung erfahren. Das Ziel dieser Vorstellungen aus den Laboren von Education Data Science sind nichts weniger als das Ausschalten von falschen Reaktionen emotionalisierter Lehrpersonen im Klassenzimmer und das Abschaffen politisierter Bildungsdebatten zugunsten (vorgeblich) Ideologie- neutraler Lernprogramme.
Es ist vermutlich nicht die Antwort, die Anna-Maria Kamin6 gerne auf ihren Beitrag zur KrisenBILDUNG, in dem sie vor der digitalen Spaltung warnt und eine verstärkte Ausstattung und Nutzung von digitalen Medien für die Kinder und Jugendlichen einfordert, hören will.
Aber es ist möglicherweise die konsequente Sci-Fi aus Gilles Deleuze′ beschriebener Kontrollgesellschaft7. Unter der Frage, wer also den Vorrang bei den Impfstoffen bekommt, lässt sich unschwer die eigentliche Frage erkennen, wer zum Beispiel innerhalb der Bildungswissenschaften sowieso schon immer vorrangig behandelt wurde und mit oder ohne Corona weiterhin behandelt wird.
5 Williamson, B. (2017). Vortrag in Kopenhagen: https://codeactsineducation.wordpress.com/2017/03/27/imaginaries-and-materialities-of-education-data-science/ Zitiert daraus: „The WEF idea is that affective computing innovations will allow systems to recognize, interpret and simulate human emotions, using webcams, eye-tracking, databases of expressions and algorithms to capture, identify and analyse human emotions and reactions to external stimuli.“ und an anderer Stelle: „And since much national education policymaking has been decided on the basis of test-based systems in recent decades, then we can see how policy processes might be short-circuited or even circumvented altogether. When you have real-time data systems tracking, predicting and pre-empting students, then you don't need cumbersome policy processes. These technologies also appear de-politicized, because they generate knowledge about education from seemingly objective data, without the bias of the researcher or the policymaker.“
6 Prof'in Dr. Anna-Maria Kamin (KrisenBILDUNG 06.07.2020) „Weiter besteht die Gefahr der Verschärfung einer digitalen Spaltung, indem sich bestehende Ungleichheiten – nicht nur im Hinblick auf Ausstattung, sondern auch hinsichtlich einer bildungschanceneröffnenden Nutzung digitaler Medien – verstärkt werden.“
7 Deleuze, G. (1993). Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. Ders. Unterhandlungen 1972-1990. Suhrkamp, 254-262. Zitiert aus Seite 257: „Das modulatorische Prinzip des „Lohns nach Verdienst“ verführt sogar die staatlichen Bildungseinrichtungen: Denn wie das Unternehmen die Fabrik ablöst, löst die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab, und die kontinuierliche Kontrolle das Examen. Das ist der sicherste Weg, die Schule dem Unternehmen auszuliefern.“
Gert Biesta hat erst kürzlich einen Artikel publiziert8, in dem er lapidar meint, in der Krise müssen wir uns entscheiden, ob wir uns in der Schule und Universität auf die Seite der Ästhetik oder auf jene der An-aesthetics, also des Narkotikums schlagen.
Also wollen wir tatsächlich jene Möglichkeit nutzen, von der Heinz-Werner Poelchau in der letzten KrisenBILDUNG9 sich ein Entschlacken und ein Setzen neuer Prioritäten erhofft? Oder lassen wir uns narkotisieren von Ideen, wie jener, dass wir Milliarden Euro an Wertschöpfung durch Schulschließungen verlieren und diese Generation von Kindern und Jugendlichen Einkommensverluste von tausenden Euro in ihrer Lebensspanne hinnehmen muss10.
Was ich nicht erst seit dieser Krise lerne, sondern schrittweise aus all den Krisen, die sich aneinanderreihen (Ölkrise, Internetblase, asiatische Autokrise, Bankenkrise, Flüchtlingskrise, Corona-Krise,...), ist, mit dem Zynismus, der aus Aussagen zu Lernzeiten und Lebenszeiten kommt, umzugehen. Einerseits redet die Europäische Union als Argument für das Bologna Abkommen von lebenslangem Lernen, presst aber Schüler*innen und Studierende zur gleichen Zeit in ein Korsett, in dem sie ja mit 18 das Abitur und spätestens mit 24 den Master abgeschlossen haben sollten.
Ich persönlich? Ich habe zwei Gänge herunter geschalten und dies auch meinen Studierenden in den Seminaren und Praxissemestern zugestanden. Kurze prägnante ZOOM Zeiten mit großen Gruppen, dafür mehr Zeit zum individuellen Gespräch mit einzelnen Studierenden. Lesen und reden. Slow Learn Movement.
8 Biesta, G. (2020). Have we been paying attention? Educational anaesthetics in a time of crises. In Educational Philosophy and Theory, Editorial. Seite 3: „For education all this raises the question whether the school will act on the side of aesthetics or the side of anaesthetics. Whether the school, under the relentless pressure from policy makers and the global measurement industry to be 'excellent,' will produce distraction or will manage to generate attention. This is perhaps one of the more fundamental educational questions that is opening up at this moment in time—let's hope that we spot it before it has passed.“
9 Prof. Dr. Heinz-Werner Poelchau (KrisenBILDUNG 03.08.2020). „Wenn es auch etwas träumerisch wirkt: Es besteht jetzt die wohl nur selten sich bietende Möglichkeit, Curricula (auch solche an den Hochschulen!) zu entschlacken und neue Prioritäten zu setzen. Und verstärkt auf die Eigenverantwortung für den eigenen Lern- und Bildungserfolg zu setzen.“
10 Agenda Austria (2020). Wie Homeschooling funktionieren kann. Policy Brief. https://www.agenda-austria.at/wp-content/uploads/2020/08/aa-pb-homeschooling.pdf „Eine achtwöchige Schulschließung, wie wir sie im Frühjahr erlebt haben, entspricht einem Verlust von 121 Millionen Arbeitsstunden. Dabei geht die Wertschöpfung um etwa 7,2 Milliarden Euro oder 1,8 Prozent der Wirtschaftsleistung zurück.“
Dort, wo es tatsächlich gebraucht wird. An den sozialen Brennpunkten.
Das kann einerseits in der wissenschaftlichen Begleitung von eben genau jenen engagierten Lehrkräften sein, von deren Bemühen es laut Susanne Miller in der KrisenBILDUNG (06.07.2020)11 immer noch abhängt, ob ein Kind aus prekären Verhältnissen eine Chance hat, egal ob in den Krisen vor Corona, währenddessen und danach.
Eine Erziehungswissenschaft hat sich zu positionieren. Wenn die traditionelle Reflexion die Fragen nach der Zukunft der Bildung ernst nähme, würden wir mit Michael Wimmer aus apokalyptischen und düsteren Bildern aussteigen und das „Unmögliche, Unwirkliche und Unentscheidbare“12 in den Blick nehmen – nicht als falsche Utopie, die sich in der Pädagogik als falsche Versprechungen herausgestellt hat, aber dem „Unsagbaren und Undenkbaren“13 zur Sprache verhelfen.
Andererseits hat Deutschland seit 1977 einen Auftrag gegenüber dem Globalen Süden14. Gerade zu Corona Zeiten wird alleine durch viele Webinar Einladungen aus Universitäten des Globalen Südens sichtbar, wie dringend hier Austausch gewünscht wird, auch in der Erziehungswissenschaft. Statt zu den „PISA Siegern“ oder zu den prestigeträchtigen amerikanischen Universitäten zu pilgern, wären die wichtigen Partneruniversitäten der Erziehungswissenschaft (aber nicht nur) in Äthiopien, in Haiti und in Laos.
11 Miller, S. (KrisenBILDUNG 06.07.2020). „Mehr als jedes fünfte Kind lebt in Deutschland in Armut und in prekären Verhältnissen, genau diese Kinder und Familien wurden und werden weiterhin allein gelassen, das ist ein Skandal. Hier hat unser gesamtes System auf sämtlichen Ebenen versagt. Natürlich gab es an den verschiedenen Stellen ein großes individuelles Bemühen, auch von Schulen und engagierten Lehrkräften, aber in so einer Lage darf und kann es nicht vom Zufall und dem individuellen Engagement abhängen.“
12 Wimmer, M. (2014). Pädagogik als Wissenschaft des Unmöglichen. Schöningh. 149
13 Ebd. 149
14 Nord-Süd Kommission (1980 / 1997) Das Überleben sichern. Der Brand Report. Ullstein.
Meine Frage wäre: „Wie begegnen wir den Postfaktischen Zeiten?“ Wenn Hundertausende von Amerikanern unter ihrem Präsidenten dachten, sie seien „an einem sicheren Ort“15, oder Millionen Brasilianern ihrem Präsidenten vertrauten, dass Corona „nur eine kleine Grippe“16 ist, dann ist etwas passiert im Umgang mit Fakten.
Auch in Deutschland zeigen erstaunlich viele, vor allem auch junge Menschen, die noch in der Schule sind, oder diese gerade absolviert hatten, wie wenig sie mit wissenschaftlichen Aussagen umgehen können. In einem etwas anderen Zusammenhang, aber auch hier anwendbar, spricht Bettina Amrhein (KrisenBILDUNG 13.07.2020) von Jugendlichen, die unter sich sind und in einem quasi „Parallelsystem“ leben.
Wenn wir also so etwas wie eine neue Welle der Verleugnung wissenschaftlicher Forschung erleben, sollten wir da nicht eine Kritik des Postfaktischen17 üben, auch und gerade in der Erziehungswissenschaft in Zusammenarbeit mit den Fachdidaktischen Instituten der Universität?
15 https://www.washingtonpost.com/opinions/2020/07/08/trumps-covid-denial-wont-fly/
16 https://www.euronews.com/2020/04/06/a-little-flu-brazil-s-bolsonaro-playing-down-coronavirus-crisis
17 Distelhorst, L (2019). Kritik des Postfaktischen. Wilhelm Fink.