Andreas Zick ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialisation und Konfliktforschung und lehrt und forscht seit 2008 an der Uni Bielefeld zu Fragen/Themen der Konflikt- und Vorurteilsforschung, Radikalisierung und Integration. Er ist zudem Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG).
Ein wenig klingt die Frage wie ein Aufruf zum Jammern. Warum werden wir nicht gehört? Weil wir unbedeutsam sind? Kann auch sein, dass wir nichts zu sagen haben. Kann auch sein, dass unser Anspruchsniveau an Bedeutsamkeit zu hoch ist. Ich bin nicht sicher. Ich könnte nur spekulieren, aber dazu hätte ich selbst vorher Antworten auf andere Fragen. Wir sollten in diesen Zeiten einer weltweiten Pandemie und der damit einhergehenden Regulationen genau bestimmen, von welchen öffentlichen Debatten wir reden, von welchen Öffentlichkeiten und von dieser Standortbestimmung aus ermitteln, wo Erziehungswissenschaft eine Rolle spielen könnte. Zudem stellt sich die Frage, welche Lobbys Erziehungswissenschaft an welchen Orten hat, nicht hat oder gerne hätte. Wissenschaftskommunikation und -transfer ist nicht linear und auch nicht direkt. Auch die öffentlich wahrnehmbare Forschung hat in der Regel Kanäle und Lobbys. Ich würde die Frage am liebsten umformulieren: Wer in der Erziehungswissenschaft kann und möchte denn gerne etwas sagen und wird nicht gehört? Es hat in den letzten Monaten eine Reihe von Studien in der Erziehungswissenschaft gegeben, die wichtig und wahrnehmbar waren, auch wenn sie nicht den medial prominenten Bühnen von Talkshows gelandet sind. Es gab sie, wenn wir genauer hinsehen.
Nun gut, angesichts der dramatischen sozialen und gesellschaftlichen Probleme, Krisen und Konflikte, die die Pandemie erzeugt und die mit Herausforderungen einhergehen für die die Erziehungswissenschaft Wissen hat und haben könnte, wird sie gemessen an den gesellschaftlich offenen Fragen wenig gehört, kommt sie wenig vor. Vieles von dem, womit Erziehungswissenschaft sich beschäftigt, ist von der Pandemie betroffen. Die Effekte der Pandemie und ihrer gesellschaftlichen Regulation auf die Bildung, Erziehung, Sozialisation und die Entwicklung von Menschen sind kaum noch übersehbar insbesondere bei strukturell prekär gestellten wie schlecht abgesicherten Menschen. Wahrscheinlich könnten wir jedes Lehr- und Handbuch der Erziehungswissenschaft bereits jetzt um einen „Corona-Absatz“ ergänzen. Vor diesem Hintergrund einer Einschätzung möglicher Sicht- und Hörbarkeit ist der öffentliche Einfluss vielleicht als verschwindend bis flüchtig einzuschätzen.
Dass die Frage nach der Wahrnehmbarkeit von Erziehungswissenschaft jedoch aus der doch recht bekannten Fakultät in Bielefeld kommt, die eigentlich immer etwas gesagt hat, weist auf ein grundsätzliches Problem des politischen wie gesellschaftlichen Umgangs mit der Situation hin. Wir haben die Expert*innenkreise, die von Bundes- und Landesregierungen einberufen werden, und hierbei spielten Fragen, bei denen erziehungswissenschaftliche und pädagogische Kompetenz eigentlich gefordert wäre, eine viel zu kleine wenn nicht sogar keine Rolle , und die Erziehungswissenschaft war kaum direkt durch Expert*innenanhörungen oder ihre Lobbyist*innen vertreten. Auch selbst dann, wenn das Thema Schule und Beschulung debattiert wurde, waren Erziehungswissenschaftler*innen leise bzw. wurden eher andere Wissenschaftler*innen öffentlich oder angefragt. Zu still und leise war die Erziehungswissenschaft auch bislang bei Themen, die wir im Kontext unserer Forschungen zu Konflikt- und Gewaltphänomenen relevant finden. Ich denke an Konflikte in Familien, die nachweisbare Gefahr von häuslicher, interpersonaler und intergruppaler Gewalt, die durch die Pandemie von Beginn an angestiegen ist, oder neuen Herausforderungen der Inklusion in Zeiten der Pandemie, Fragen zur Bindung, Fragen zur Vermittlung von Gefahren und Risiken in Zeiten veränderter sozialer Beziehungen. Ich denke auch an Fragen zu Diskriminierung, Rassismus und menschenfeindlicher Abwertung von Gruppen, die durch die Pandemie eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, insbesondere unter armen Menschen. Bislang hatte noch jede gesellschaftliche Krise negative Folgen für Minoritäten in Gesellschaften. Die Forschung aus Gebieten, die von Krankheiten, Umweltkatastrophen, Kriegen oder anderen schweren Konflikten geprägt sind, lag vor der Pandemie vor und hat darauf hingewiesen, was kommen würde. Insofern hätte es Gelegenheit gegeben, sich öffentlich noch deutlicher einzumischen, wie es aber auch Gelegenheit für derjenigen, die die Krise steuern, gegeben hätte, den Rat der Forschung einzuholen. Offensichtlich wird die Pandemie aber eben auch eher von Sicherheits- und Kontrollparadigmen sowie medizinischen Modellen von Menschen dominiert, sodass andere Stimmen nicht durchdringen. Allein viele Coronaregeln wurden ohne den ‚menschlichen Faktor‘ aufgestellt, was auch von einer Ignoranz gegenüber dem Wissen zeugt.
Bevor dies aber nun in einem Jammern um Bedeutsamkeit entgleitet: Die Wahrnehmbarkeit von Erziehungswissenschaft hat sich im Verlauf der Pandemie etwas geändert. Das geschah z.B. als die Öffentlichkeit auf einmal junge Menschen als Risikogruppe erkannte, und dies vor allem als junge Menschen im Sommer in Stuttgart und Frankfurt öffentliche Gewalt. Da gab es auf einmal Fragen, was mit der Jugend los sei und die Jugendforschung wurde bemüht, um stereotype Bilder von Jugend auszuräumen. Medial wird zum Jahresbeginn 2021, der von einem härteren Lockdown geprägt ist, fast täglich über die Belastung von Menschen durch die Schließung von Schulen, Kitas wie auch Freizeit- und Kulturmöglichkeiten verhandelt und all das berührt erziehungswissenschaftliche Fragen und zum Teil findet die Disziplin Gehör.
Ich wende die zweifelnde Frage zum Ende der Antwort mal positiv: Erziehungswissenschaftler*innen könnten sich mehr zutrauen und öffentlicher werden mit ihrer Expertise. Ich leite ein Masterseminar zur Coronasituation und dort versuchen wir das, was wir erziehungswissenschaftlich vor der Pandemie wussten, thematisch mit einer Analyse dieser besonderen Situation zusammenzubringen. Das klappt bei manchen Wissensbeständen, etwa wenn wir über Herausforderung der Erziehung in Familien während der Coronazeit sprechen. Bei anderen Wissensbeständen wird deutlich, dass diese Situation vollkommen neue Fragen aufbringt und wir für viele neue sichtbare Phänomene, wie zum Beispiel die Isolation und Einsamkeit oder die Fragen von Regelkonformität und dem Verhältnis von Menschen zu staatlichen „Erziehungsmaßnahmen“, mehr Fragen als Antworten haben.
Um allerdings öffentlicher zu werden, bedarf es auch eines Wissenskommunikations- wie -transferkonzeptes und es bedarf einer Antwort auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir denn Leben und welche Relation zwischen dem erziehungswissenschaftlichen Modell von Gesellschaft und alternativen Gesellschaftsmodellen besteht. Die Gesellschaft ist in Teilen marktkonform, sie wird in allen Bereichen ökonomisiert und standardisiert. Sie ist eine offene wie zugleich fragmentierte Gesellschaft, in der die zentralen Institutionen Sicherheit und Kontrolle verschaffen sollen. Das erziehungswissenschaftliche Modell von Gesellschaft mag ein Modell sein, in dem die Bewertungen dessen, was wichtig und angemessen ist, gegen die gesellschaftliche Entwicklung prallt und das merken einige Forschende vielleicht nun auch als Momente der Bedeutungslosigkeit. Sie könnten es auch als politisches Moment erleben. Als ein Moment, in dem sichtbar wird, dass die soziale Realität und die gegebenen Strukturen versagen, weil sie das übersehen haben, was nach erziehungswissenschaftlicher Sicht schon vorher als bedeutsam betrachtet wurde: Bindung, sichere Beziehungen, Wertschätzung und Erhaltung der Würde. Das macht die Pandemie sichtbar und das ignoriert die politische Steuerung von Gesellschaft in vielen Aspekten. Wer dem zustimmt, müsste nun eigentlich beim Wunsch nach mehr Bedeutung politisch handeln wollen und es tun. Insofern ist die Bedeutsamkeitsdebatte der Erziehungswissenschaft auch eine politische Debatte, die politisches Handeln erfordert; das kann auch nur wissenschaftspolitisches Handeln sein falls alles andere eher bedrohlich wird.
Wir erforschen Konflikt- und Gewaltphänomene am Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und an der Fakultät interessieren uns Fragen der Sozialisation wie auch Fragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, da wir an der Entwicklung des Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt beteiligt sind. Zu den Konflikt- und Gewaltphänomenen gehören Radikalisierungen und Extremismus, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeiten, Fragen der Integration, Migration und des gesellschaftlichen Friedens, sowie der Konflikte in sozialen Räumen. Zu all den Konflikt- und Gewaltphänomenen, die mit den Forschungen verbunden sind, hatten wir schon hinreichend viele Desiderata. Ich nenne mal ein Beispiel: Mitten in der Pandemie hat die Bundesregierung einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und Rassismus gebildet und das BMBF uns nach Forschungsdesiderata befragt, ebenso der Landtag NRW. Wir haben zig Seiten zusammengeschrieben mit Forschungsideen für die Förderung fehlt, weil es keine etablierten Forschungsfelder zu unseren Themen gibt; denken wir allein an die Rassismusforschung. In der Pandemie sind Desiderata zur Konflikt- und Gewaltprävention in Krisenzeiten dazugekommen. Die Pandemie mit den damit einhergehenden Regelungen zur Distanz, zur Einschränkung von üblichen Bewegungsräumen, wie auch den Fragen zum Umgang mit ökonomischen, sozialen und psychologischen Belastungen, hat neue Forschungsfragen aufgeworfen. Dazu zählen die Radikalisierung von Menschen in extremistisch orientierten Gruppen, das Aufkommen von neuen Verschwörungsgruppen und sektiererischen Gemeinschaften und viele weitere Phänomene, die analysiert werden müssen. Ebenso wurde klar, dass für viele Bereiche der Radikalisierungs- und Gewaltprävention kluge Prävention wie Intervention fehlt und viele Phänomene unerforscht sind, gerade solche, die ihre Ursachen aber weit vorher haben. Rassismus und Extremismus sind nicht Teil des Corona-Virus und sie werden nicht durch Aerosole übertragen.
Dazu kommen aber auch liegengebliebene Fragen, die durch den Einschluss der Gesellschaft, das Aushebeln von Normalitäten und die Begrenzung von Möglichkeiten auf einmal drängend werden. Die deutsche Gesellschaft ist wie viele andere Gesellschaften mit schweren innergesellschaftlichen Konflikten in die Pandemie gegangen. Unsere Bielefelder Studien zeigen, dass in Teilen die Gesellschaft gespalten und polarisiert ist. Das hat sich verschärft und nun stehen wir umso mehr vor der Frage: Von welcher Gesellschaft reden wir eigentlich? In welcher Gesellschaft leben wir und von welcher Gesellschaft mit all ihren Institutionen und Regulationsdynamiken und -mechanismen gehen wir aus? Anders: Wovon geht die Erziehungswissenschaft aus? Oder noch einmal anders gefragt: In welche Gesellschaft gelangen wir mit all der erziehungswissenschaftlichen Perspektive und Haltung, wenn sie wieder geöffnet wird?
Ich könnte noch viele weitere offene Forschungsfragen nennen, die die Pandemie mit sich bringt. Derzeit müssen wir fähig sein, Prognosen über gesellschaftliche Entwicklungen zu erstellen und gewissermaßen Zukunftsmodelle aus unseren Gegenwartsdiagnosen ableiten. Das wäre interessant, aber das bringt weitere und ganz andere Herausforderungen mit sich. Haben wir prognostische Theorien und Modelle, welche Zukunftsszenarien können wir auf der Grundlage unseres Wissens entwickeln und zur Debatte anbieten?
Eine letzte Herausforderung, die mir mit Blick auf die Disziplin einfällt, ist die Frage, wie wir zukünftig Wissens- oder Wissenschaftskommunikation und -transfer betreiben möchten. Die Pandemie hat – um mal ein Klischee zu bemühen – den Elfenbeinturm auch geräumt und uns in die Gesellschaft schneller zurückgeworfen als wir dachten, obwohl wir zugleich alle im Home-Office sind. Der öffentliche Druck auf Wissenschaftskommunikation ist höher geworden, weil Wissenschaft bedeutsamer wird und schneller zu kommunizieren ist. Dazu brauchen wir eine Strategie der Kommunikation jenseits der persönlichen wie fachgesellschaftlichen Strategie.
Viele Chancen für die Wissenschaft habe ich oben schon genannt, indem ich Herausforderungen und Unzulänglichkeiten angesprochen habe. Aus dem Nichtgehörtwerden erwachsen ja Chancen, endlich mal darüber nachzudenken, warum das nicht der Fall ist. Zudem muss ich bei der Frage ergänzen, dass Krisen nicht per se Chancen sind, wenn wir die Chancen nicht sehen oder falsch bewerten. Ein gutes Krisenmodell beinhaltet immer die Option endlich mal in den Stand zu kommen, Krisen richtig zu bewerten. Das, was ich als Leiter eines größeren Verbundes an Wissenschaftler*innen in der Krise am meisten gelernt habe ist, dass die Frage, wie gute Forschungsgemeinschaften hergestellt werden können, bedeutsamer ist als wir es vielleicht dachten. In der Krise stellt sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und genau diese Frage stellt sich nun auch in der Wissenschaft, die die Krise auch bedroht und bei zukünftig einbrechenden Mitteln noch mehr tun wird. Das bedeutet, die Frage, wie Forschungsgemeinschaften zusammenarbeiten und zusammenhalten können ist bedeutsamer als je zuvor. Die Krise öffnet also für die Frage, was wirklich wichtig ist, wenn Kriterien der Bedeutsamkeit, die vorher galten, weniger wichtig sind. Nun denn, weil die Frage auch persönlich adressiert war: Ich habe gelernt, dass von den 160 Reisen im Jahr 2019 sehr viele Reisen noch viel mehr umweltbelastend waren als ich dachte. Wir haben uns in Vielem sehr vertan und sollten uns das eingestehen. Die Krise macht deutlich, was früher unsinnig wie verzichtbar war. Das könnten wir in Zukunft lassen.
Ich bin kein Experte in dieser Frage und würde selbst nach Expertise suchen. Mein Blick ist durch die Sozialisationsforschung eingeschränkt. Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie Menschen gesellschaftliche Identitäten und Zugehörigkeiten in Interaktion mit der Gesellschaft und vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Gegebenheiten entwickeln. Die Coronazeit hat meine Einführungsvorlesung und alle Seminare zu dem Thema beschäftigt. Wir haben selbst eine sehr große Coronastudie zur Frage der Bedeutung der Pandemie auf die Wahrnehmungen von Gesellschaft mit über 3.000 Befragten durchgeführt. Angesichts dessen, was wir dabei beobachtet und diskutiert haben, kann ich auf die Frage vor allem eines hervorheben: Die Pandemie hat so viele Menschen und Gruppen in der Gesellschaft hart getroffen, indem sie ihnen Anschluss, Bindung und Teilhabe an Erziehungsmöglichkeiten, Entwicklungs- und Sozialisationsmöglichkeiten und Bildung erschwert und in Teilen verunmöglicht hat, dass die sozialen Krisen sich tief in die zukünftige Entwicklung eingraben werden. Wir können das übersehen, Politik kann es übersehen, aber empirisch werden sich langfristige Folgen zeigen, die alle auf eines hindeuten: Die Frage der sozialen Ungleichheit in Bildung und Erziehung wird bedeutsamer in den nächsten Jahren als sie es eh schon war. Erziehungswissenschaft kann ein Ort sein, wo die Situation und Einschätzung der Gegenwart von gesellschaftlichen Gruppen einen Platz hat, wo sie woanders verloren gegangen ist. Das was wir im Institut machen, ist vielleicht eher Gefährdungs- und Krisenwissenschaft. Das was Erziehungswissenschaft macht, könnte eine Gelingenswissenschaft sein, auf die wir verweisen können.
Wie können wir das, was in diesem Blog über die Frage nach der Identität der Erziehungswissenschaft in Zeiten der Pandemie einerseits festhalten und weiter diskutieren, wie andererseits langsam in Form gießen, also weiter ausformulieren, beforschen, in den gesellschaftlichen Diskurs einspeisen etc.? Zu Krisen gehört, dass wir sie am liebsten schnell hinter uns lassen wollen. Die Gesundheitspandemie ist geprägt von der Hoffnung, dass bald alles so ist wie früher. Ebenso werden wir merken, wie schnell am Ende der Pandemie der Druck auf das Hochfahren der Ökonomie alles andere überlagern wird. Die Hoffnung ist aber nicht nur ein Trugschluss, sondern mir auch viel zu konservativ und autoritär, und die Marktlogik wird die uns interessierenden Fragen auch nicht lösen. Die Herstellung vormaliger Verhältnisse ist bei allem Verständnis für nostalgische Rückerinnerung in Zeiten der Unsicherheit nicht ernsthaft ein Modell, oder doch?