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Phi­lo­so­phie für die Öf­fent­lich­keit

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Hel­fen, Hei­len, Ster­ben­las­sen?

Ein Bei­trag von Jay Wolf

Eine Person in einem dunkelgrünen Pullover hält einen rot-gelben Apfel in ihrer linken Hand. Im Bildausschnitt ist nur die linke Hand mit dem Apfel, etwas Ärmel, und im Hintergrund leicht verschwommen ein Teil des Oberkörpers zu sehen.
Foto: con­ger­de­sign / Pix­a­bay

Es wird er­zählt, der Phi­lo­soph De­mo­krit, der 370 v. Chr. ver­starb, habe im Alter von 109 Jah­ren sei­nen Tod durch frei­wil­li­gen Ver­zicht auf Nah­rung und Flüs­sig­keit (FVNF) her­bei­ge­führt, und sogar um we­ni­ge Tage ver­scho­ben, um dem Wunsch sei­ner Schwes­ter zu fol­gen, und nicht an einem be­son­de­ren Fei­er­tag zu ster­ben. Un­ab­hän­gig von der Wahr­haf­tig­keit die­ser Er­zäh­lung, wird an die­sem Bei­spiel deut­lich, dass FVNF im Be­son­de­ren, aber auch selbst­be­stimm­tes Ster­ben ge­ne­rell, be­reits in der An­ti­ke the­ma­ti­siert wurde.

Immer wie­der kom­men auch heute in Deutsch­land De­bat­ten um „Ster­be­hil­fe“, den as­sis­tier­ten Sui­zid, auf. Denn selbst­be­stimm­tes Ster­ben ist ein Thema, das viele Men­schen be­wegt. Der frei­wil­li­ge Ver­zicht auf Nah­rung und Flüs­sig­keit tritt dort als mög­li­che Al­ter­na­ti­ve zum um­strit­te­nen „as­sis­tier­ten Sui­zid“ auf.

Das Leben selbst­be­stimmt be­en­den

Trotz­dem ist der FVNF in Deutsch­land heute eher eine Rand­er­schei­nung und wird re­la­tiv wenig in der Öf­fent­lich­keit dis­ku­tiert. Den­noch, oder eben des­we­gen, wurde die Online-​Petition „Ja zum be­glei­te­ten Ster­be­fas­ten“ von Bar­ba­ra Rüt­ting von 42.473 Per­so­nen un­ter­zeich­net. Zudem ergab eine Um­fra­ge sei­tens Al­fred Simon und Nina Luisa Ho­ek­s­tra im Jahr 2015, dass die be­frag­ten Haus­ärzt*innen und Pal­lia­tiv­me­di­zi­ner*innen den FVNF in gro­ßer Zahl be­für­wor­ten. Fast zwei Drit­tel der Teil­neh­men­den hat­ten sogar bis­her min­des­tens eine Per­son beim frei­wil­li­gen Ver­zicht be­glei­tet.

Ver­zich­ten­den geht es oft­mals nicht bloß darum, ihrem Leben ir­gend­wie ein Ende zu set­zen. Die Art und Weise ist für viele von gro­ßer Be­deu­tung. Der frei­wil­li­ge Ver­zicht ist ein Akt der Selbst­wirk­sam­keit. Denn an­ders als bei Prak­ti­ken des as­sis­tier­ten Sui­zids, bei denen zum Bei­spiel be­stimm­te Sub­stan­zen zu sich ge­nom­men wer­den, die von der ent­spre­chen­den As­sis­tenz be­reit­ge­stellt wer­den, und ein­ge­nom­men wer­den, ist der FVNF eine Hand­lung, die na­he­zu voll­stän­dig von Ster­ben­den selbst, und damit selbst­be­stimmt, durch­ge­führt wird.

Be­son­ders re­le­vant ist die­ser Aspekt für Per­so­nen, die ihr Leben grund­sätz­lich gern selbst „in die Hand neh­men“ und viel­leicht auf­grund ihrer vor­aus­ge­gan­ge­nen Krank­heits­ge­schich­te nicht mehr die Mög­lich­keit dazu hat­ten. Su­san­ne Schä­fer be­ob­ach­tet au­ßer­dem, dass der FVNF häu­fig als „na­tür­li­che Al­ter­na­ti­ve“ ge­se­hen wird, das Leben zu be­en­den, be­zie­hungs­wei­se das Ster­ben zu be­schleu­ni­gen. Es müs­sen schließ­lich keine Sub­stan­zen ein­ge­nom­men wer­den, ein Ein­griff von frem­den Per­so­nen ist im Grun­de nicht zwin­gend not­wen­dig, und das Ster­ben macht laut Jür­gen Bick­hardt und Ro­land Mar­tin Hanke durch das zu­meist fried­li­che „Ein­schla­fen“ für die Be­tei­lig­ten einen „na­tür­li­chen“ Ein­druck. Das kann, wie die Selbst­wirk­sam­keit nach einer Zeit der Ab­hän­gig­keit, auch von Me­di­ka­men­ten, als be­frei­end emp­fun­den wer­den kann.

Eine ganz ei­ge­ne Hand­lungs­wei­se

Zur Ein­ord­nung des FVNF in Sui­zid oder „na­tür­li­cher Tod“ gibt es ver­schie­de­ne, zum Teil wohl auch per­sön­li­che Mei­nun­gen. Rein recht­lich ge­se­hen ist die Be­glei­tung von Ster­ben­den zu­nächst die Pflicht von Be­han­deln­den und Pfle­gen­den – un­ab­hän­gig davon, ob sie wäh­rend­des­sen auf Nah­rung und Flüs­sig­keit ver­zich­ten. Es han­delt sich also sei­tens des Rechts nicht um Tö­tung auf Ver­lan­gen oder as­sis­tier­ten Sui­zid.

Es ist schwie­rig, die ver­schie­de­nen Auf­fas­sun­gen vom FVNF in einen ein­zel­nen Be­griff zu fas­sen – und viel­leicht auch gar nicht zwin­gend not­wen­dig. Daher liegt es nahe, wie Jür­gen Bick­hardt vor­schlägt, den FVNF als „ganz ei­ge­ne Hand­lungs­wei­se“ auf­zu­fas­sen und ihm ent­spre­chend zu be­geg­nen.

Men­schen zu be­glei­ten, deren Wunsch es ist, ihr Leben vor­zei­tig zu be­en­den, be­zie­hungs­wei­se ihr Ster­ben zu be­schleu­ni­gen, scheint den­noch häu­fig zu­nächst nicht ver­ein­bar zu sein mit dem Be­rufs­ethos von Pfle­gen­den und Be­han­deln­den, der in ers­ter Linie auf Hilfe und Hei­lung aus ist. Au­ßer­dem kommt häu­fig Un­si­cher­heit dar­über auf, ob ein FVNF über­haupt zu­ge­las­sen wer­den darf – be­son­ders wenn die An­nah­me vor­herrscht, es hand­le sich um as­sis­tier­ten Sui­zid, der nun auch bis vor Kur­zem unter Stra­fe stand.

Die­ser Pro­ble­ma­tik kann schluss­end­lich nur mit Auf­klä­rung be­geg­net wer­den. So­wohl für Be­han­deln­de als auch Pfle­gen­de ist es wich­tig zu wis­sen, dass der FVNF keine straf­ba­re Hand­lung ist und sie Ver­zich­ten­de be­glei­ten dür­fen. Neben der Auf­klä­rung über recht­li­che Fra­gen ist es wohl aber auch nötig, Pfle­gen­den und Be­han­deln­den die Mög­lich­keit zu geben, nicht an dem Ver­zicht be­tei­ligt sein zu müs­sen, wenn die men­ta­le Be­las­tung dabei zu groß wird. Es kann al­ler­dings nie eine Mög­lich­keit sein, Ver­zich­ten­de nicht pal­lia­tiv zu ver­sor­gen.

Die Kunst

Das Ende eines Le­bens ist für die Be­tei­lig­ten oft­mals nicht ein­fach zu be­wäl­ti­gen. Ins­be­son­de­re dann nicht, wenn Per­so­nen ihr Leben selbst be­en­den wol­len. Denn Ster­ben ist in Zei­ten gro­ßen medizinisch-​technischen Fort­schritts zu etwas ge­wor­den, das zwar jeden Men­schen ir­gend­wann er­war­tet, aber bis dahin um jeden Preis ver­mie­den wer­den soll­te, und oft­mals auch kann. „Frü­her ist man ge­sund ge­stor­ben“, stellt Klaus Ko­bert daher fest. Al­tern­de Men­schen waren bis zu ihrer letz­ten Krank­heit meist weit­ge­hend ge­sund. Heute, und in naher Zu­kunft wahr­schein­lich noch mehr, sind sol­che Krank­hei­ten durch neue Me­di­ka­men­te und Be­hand­lungs­for­men eher Är­ger­nis­se, mit denen man fer­tig wird, be­zie­hungs­wei­se fer­tig wer­den kann.

Es ist für alle Be­tei­lig­ten daher wich­tig, zu er­ken­nen, wel­che die letz­te Krank­heit sein wird – die die nicht mehr ge­heilt wird. Und es ist eine Kunst, diese letz­te Krank­heit auch nicht mehr hei­len zu wol­len, die es wohl neu zu er­ler­nen gilt.

Dabei ist es auch wich­tig, den Ster­be­pro­zess im Sinne der Ster­ben­den zu ge­stal­ten. Wenn es für Ster­ben­de an die­ser Stel­le rich­tig ist, ihr Ster­ben durch FVNF zu be­schleu­ni­gen, soll­ten die Be­tei­lig­ten sie dabei un­ter­stüt­zen. Denn im Grun­de ster­ben Men­schen nicht, weil sie auf­hö­ren, zu essen. Sie hören auf zu essen, weil sie ster­ben.

Quel­len

Bick­hardt, Jür­gen / Ro­land Mar­tin Hanke: Frei­wil­li­ger Ver­zicht auf Nah­rung und Flüs­sig­keit: Eine ganz ei­ge­ne Hand­lungs­wei­se, in: Deut­sches Ärz­te­blatt, Jg. 111, Nr. 14, 2014.

Birn­ba­cher, Die­ter: Ist Ster­be­fas­ten eine Form von Sui­zid?, in: Ethik in der Me­di­zin, Jg. 27, Nr. 4, 2015, doi: 10.1007/s00481-​015-0337-9.

Feicht­ner, An­ge­li­ka / Diet­mar Weix­ler / Alois Birk­lbau­er: Frei­wil­li­ger Ver­zicht auf Nah­rung und Flüs­sig­keit um das Ster­ben zu be­schleu­ni­gen, in: Wie­ner Me­di­zi­ni­sche Wo­chen­schrift, Jg. 168, Nr. 7–8, 2018, S. 354.

Ho­ek­s­tra, N. / M. Strack / A. Simon: Be­wer­tung des frei­wil­li­gen Ver­zichts auf Nah­rung und Flüs­sig­keit durch pal­lia­tiv­me­di­zi­nisch und haus­ärzt­lich tä­ti­ge Ärz­tin­nen und Ärzte, in: Zeit­schrift für Pal­lia­tiv­me­di­zin, Jg. 16, Nr. 02, 2015, doi: 10.1055/s-​0034-1387571.

Ko­bert, Klaus: Von der Kunst, die letz­te Krank­heit nicht mehr hei­len zu wol­len, in: Ul­rich Pohl / F. Chris­ti­an Trie­bing (Hrsg.), An der Pfor­te des Him­mels, Bai­er­brunn, Deutsch­land: Wort und Bild, 2010.

Rüt­ting, Bar­ba­ra: Ge­stor­ben wird Zu­hau­se - Ja zum be­glei­te­ten Ster­be­fas­ten! Dafür brau­chen wir ein Ge­setz!, in: Chan­ge.org, 2015, [on­line] https://www.chan­ge.org/p/gestorben-​wird-zuhause-ja-zum-sterbefasten [02.09.2020].

Schä­fer, Su­san­ne: Fas­ten als letz­te Lö­sung, in: Zeit On­line, 10.04.2014, [on­line] https://www.zeit.de/2014/16/sterbefasten-​natuerlicher-suizid, S. 2.


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Eine Person in einem dunkelgrünen Pullover hält einen rot-gelben Apfel in ihrer linken Hand. Im Bildausschnitt ist nur die linke Hand mit dem Apfel, etwas Ärmel, und im Hintergrund leicht verschwommen ein Teil des Oberkörpers zu sehen.
Foto: congerdesign / Pixabay

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