zum Hauptinhalt wechseln zum Hauptmenü wechseln zum Fußbereich wechseln Universität Bielefeld Play Search

Philosophie für die Öffentlichkeit

Logo Community of Practice Public Humanities
Campus der Universität Bielefeld
© Universität Bielefeld

Die Welt geht unter!

Ein Beitrag von Leon Dollerschell

Mann mit Gasmaske und durchsichtigem Gesichtsschutz in CSA, Nahaufnahme
Foto: toyquests / Pixabay

Krieg in der Ukraine, eine Pandemie, eine Tendenz zum Autoritarismus in vielen Ländern der Welt und ein Klimawandel, der nicht aufzuhalten scheint. Themen wie diese sind nun schon länger täglich Teil der Nachrichten. Oft erzeugen sie das Gefühl eines Films von Roland Emmerich oder eines Romans von George Orwell.

Ob Politik, Klima oder Technologie, eine generelle Beunruhigung scheint omnipräsent. Und dabei scheinen die Geschehnisse meist unausweichlich und plötzlich zu geschehen. Doch ist dies ist nicht zwingend der Fall.

Schon seit dem ersten Drittel des 20 Jahrhunderts warnt uns die dystopische Literatur vor Trends oder Ereignissen, die gravierende negative Effekte in der Zukunft haben könnten. Gerald Farca beschreibt dies mit Bezug auf Chris Ferns Artikel „Narrating Dystopia“ sehr passend. Er sagt

Als Fälle der "Gesellschaftskritik" drehen sich dystopische Fiktionen in erster Linie um "Gesellschaften oder Probleme der 'echten Welt' ", die in die Zukunft extrapoliert werden, um sie in ihrem erschreckenden Ausmaß zu zeigen - um dem Leser nicht nur zu zeigen, was sein könnte, sondern in gewisser Weise auch, was bereits ist.

Gerald Farca

Dystopische Literatur warnt somit gezielt vor Problemen oder Tendenzen, die heute erkennbar und bereits problematisch sind oder es werden könnten.

Es gibt viele bekannte Beispiele dieser Literatur

Im Jahre 2004 erschien Roland Emmerichs Katastrophenfilm „The day after tomorrow“. Dieser handelt von einem Amerika, welches von einer massiven Kältewelle erfasst wird und nicht im Geringsten vorbereitet ist.

Heute, im Winter 2022/2023, wüten Schneestürme wie niemals zuvor in Amerika. Ganze Regionen sind ohne Strom und Erfrieren ist eine reellere Gefahr als jemals zuvor. Und im Groben sind die Ereignisse, wenn auch weniger extrem, eingetroffen.

Auch sein Film „2012“ aus dem Jahre 2009 beschäftigt sich mit einer der Folgen des Klimawandels, Überschwemmungen, welche nun seit Jahren in vielen Regionen der Welt immer verheerender werden.

Im Bereich der Technologie lassen sich ähnliche Tendenzen finden. Werke wie „The Circle“ von Dave Eggers (2018) oder „Snow Crash“ (1992) von Neal Stephenson warnen vor der wachsenden Bedeutung und Rolle von Technologie und Social Media. Eine Tätigkeit wie „social media screening“ ist dabei heute schon ein vergleichbares Beispiel.

Der von Stephenson kreierte Begriff „Metaverse“, der Name seiner dystopischen, digitalen Welt, ist heute der Name eines Projekts der Firma „Meta“, zuvor Facebook. Ziel ist es, eine zweite, virtuelle Welt, zu erschaffen. In Stephensons Buch geht es jedoch genau um die Gefahren einer solchen Erfindung. Die Ironie scheint jedoch nicht allen bewusst.

Vor allem aber die Politik liegt im Fokus der dystopischen Literatur. Mit Themen wie Zensur, Autoritarismus, Diktatur, Kontrolle und Unterdrückung wird ein breites Spektrum abgedeckt.

Bekannt ist vor allem George Orwells „1984“ (erschienen 1949), mit seinem Fokus auf staatlicher Überwachung. Ein Thema, welches vielen noch aus dem Jahre 2013 in Erinnerung sein sollte. In diesem Jahr gab der Whistleblower Edward Snowden bekannt, dass Amerika weltweit verdachtsunabhängig überwache und abhöre. Auch werden seit längerem global Gesetze verabschiedet, welche das staatliche Überwachen der Bevölkerung erleichtern oder erlauben. Ein Beispiel dafür ist der in Deutschland im Juni 2021 angenommene Gesetzesentwurf zum Einsatz des Staatstrojaners.

Ein gesundes Maß an Skepsis gegenüber der Politik scheint daher mehr als angebracht.

Wer beobachtet diesen Trend?

Vor allem in der Philosophie und an Universitäten scheint das wachsende Interesse an dystopischer Literatur und Zuwachs an dystopischer Literatur aufgefallen zu sein.

Calvert Jones und Celia Paris betrachten in ihrem Artikel „How dystopian narratives can incite real-world radicalism“ den Einfluss solcher Literatur. Ihr Fokus lag auf dem möglichen Zuwachs an Gewaltbereitschaft, welche die Literatur ihrer Meinung nach hervorrufen kann.

Ihrer Interpretation der Studienergebnisse zufolge führt der Konsum dystopischer Literatur zu einer höheren Gewaltbereitschaft aufgrund politischer Motivationen. Dies liegt, meiner Meinung nach, vor allem an der Darstellung von Gewalt als legitimes, omnipotentes Lösungsmittel in modernen Exemplaren des Genres.

Der allgemein herrschende Trend zum Weltuntergang wurde auch von Jeremy Adelman, Professor der Geschichte, wahrgenommen. In seinem Artikel „Why the idea that the world is in terminal decline is so dangerous“ beschäftigt er sich mit genau dieser negativen Tendenz.

Er sieht sie als Anzeichen für tief liegende Probleme, warnt jedoch vor zu drastischen Reaktionen. Andernfalls könnten unnötige, totale Veränderungen oder Fatalismus die Folgen sein. Diese Einschätzung deckt sich mit den Ergebnissen von Jones und Paris.

Hier treffen zwei Erkenntnisse aufeinander: Auf der einen Seite ein Zuwachs an moderner dystopischer Literatur, welche gewaltsames Handeln als Lösung glorifiziert. Und auf der anderen Seite aktuelle Ereignisse und Berichterstattungen, welche die Angst vor genau solchen Umständen schüren. Ein Anstieg an Gewaltbereitschaft aus politischem Unmut ist somit wenig verwunderlich.

Was ist der moralische Antrieb hinter einer solchen Literatur?

Die dystopische Literatur warnt nicht zwingend vor schlechten Beweggründen. Sie warnt vor guten Ideen, welche einen negativen Effekt haben können oder vor graduellen negativen Entwicklungen.

So zum Beispiel die wachsende Zunahme an Überwachung, Kontrollverlust über die eigenen Daten, der Wandel eines politischen Systems zu einer Diktatur oder zum Autoritarismus, oder auch das Zurückkehren alter Einstellungen und Denkweisen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie und viele mehr. Und doch entstehen viele dystopische Szenarien aus den Versuchen, die Welt zu verbessern und uns näher an ein Utopia zu bringen.

Die Zukunft genau vorherzusagen ist natürlich niemandem möglich, doch das Genre der dystopischen Literatur gibt uns die Gelegenheit, aus möglichen, fatalen Fehlern zu lernen, bevor sie geschehen. Um dies zu tun, müssen wir sie jedoch auch ernst genug nehmen und als mehr sehen als pure Unterhaltung.

Quellen

Jeremy Adelman, Why the idea that the world is in terminal decline is so dangerous, Aeon, 27.01.23, https://aeon.co/ideas/why-the-idea-that-the-world-is-in-terminal-decline-is-so-dangerous

Anjuli Damen, Überwachung durch Staatstrojaner, Phoenix, 27.01.23, https://www.phoenix.de/eberwachung-durch-staatstrojaner-a-2192315.html

David Eggers, The Circle, Knopf, 2013, US

Roland Emmerich, 2012, Sony Pictures Motion Picture Group, 2009, US

Roland Emmerich, The Day After Tommorow, 20th Century Fox 2004, US

Gerald Farca, Playing Dystopia, Nightmarish Worlds in Video Games and the Player’s Aestetic Responce, Transcript, 2018

Calvert Jones, How dystopian narratives can incite real-word-radicalism, Aeon, 27.01.23, https://aeon.co/ideas/how-dystopian-narratives-can-incite-real-world-radicalism

Elijah Milgram, The ministry of truth, Aeon, 27.01.23, https://aeon.co/essays/orwell-was-wrong-doublethink-is-as-clear-as-language-gets

Goerge Orwell, 1984, Secker & Warburg, 1949, England

Eric Schwitzgebel, The Coming Robot Right Catastrophe”, The Splintered Mind (Blog) 27.01.23, http://schwitzsplinters.blogspot.com/2022/10/the-coming-robot-rights-catastrophe.html

Michael Shermer, Utopia is a dangerous ideal: we should aim for “propaganda”, Aeon, 27.01.23, https://aeon.co/ideas/utopia-is-a-dangerous-ideal-we-should-aim-for-protopia

Neal Stephenson, Snow Crash, Bantam Book, 1992, US


Zurück zur Übersicht

Zum Seitenanfang