Wenn man in den vergangenen zwei Jahren durch das deutsche Feuilleton geblättert hat, so fühlte sich das ein bisschen an, wie dem Tischgespräch beim alljährlichen Familientreffen an den Feiertagen beizuwohnen. Da treffen der konservative Onkel, die zwanzigjährige Cousine und der ältere Bruder aufeinander. Die Cousine ist nach Berlin gezogen, der Bruder möchte von seinem neuen Job erzählen und alle wollen eigentlich nur ein schönes Familienfest feiern. Doch dann wird unweigerlich über die Tagesschau vom vorigen Abend gesprochen, und im Familienidyll entbrennt im Kerzenschein eine hitzige Diskussion. Und irgendwann fällt der Satz „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ und die Mutter steht auf, um das Dessert aus der Küche zu holen und damit die Gemüter zu beruhigen.
Ähnlich emotional wird oft in den deutschen Medien diskutiert. Auch hier scheint bei einigen die Sorge zu herrschen, den Mund verboten zu bekommen. Nur leider hilft in diesem Fall kein selbstgemachtes Tiramisu, um die Stimmung zu retten.
Ein Begriff, der in diesen Debatten immer wieder auftaucht und mittlerweile selbst zur Diskussion steht, ist die sogenannte „Wissenschaftsfreiheit“. Vor zwei Jahren gründete sich das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, dem inzwischen mehr als 700 deutschsprachige Wissenschaftler*innen angehören. Ihr selbsterklärtes Ziel ist es, „Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologisch motivierte Einschränkungen zu verteidigen“. Parallel wird auf Twitter von diversen Accounts vor Cancel Culture gewarnt und im Feuilleton geht es um gezielte Angriffe auf Professor*innen.
Faktisch gesehen ist die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland als Grundrecht in der Verfassung verankert. Sie umfasst dabei die inhaltliche und methodische Freiheit von wissenschaftlicher Forschung sowie dem Lehren und Lernen an den Hochschulen. Demnach sollte es in Deutschland also keinen Grund zur Sorge um die Freiheit der Wissenschaft geben. Auch der Academic Freedom Index, der einen Überblick über den Stand der Wissenschaftsfreiheit in über 170 Ländern weltweit gibt, attestiert Deutschland Bestnoten. Wo kommt sie also her, die Angst vor der Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit?
Um das herauszufinden, müssen wir uns zunächst fragen, was hier eigentlich unter Wissenschaftsfreiheit verstanden wird. Frei wovon soll die Wissenschaft sein? Von Restriktionen durch politische Autorität, von Kritik durch Außenstehende, von moralischen Werten? In seinem Manifest spricht das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit von „moralischen und politischen Vorbehalten“, von „weltanschaulicher Instrumentalisierung“ und „Konformitätsdruck“.
An dieser Debatte ist aber vor allem erkennbar: Wissenschaft ist alles andere als frei von (politischen und sozialen) Werten. Der Begriff der Wissenschaftsfreiheit wird an dieser Stelle instrumentalisiert, um ein im Grunde politisches Ziel zu erreichen. Die diesem Ziel zugrundeliegenden Werte werden hingegen nicht explizit gemacht. Unter dem Deckmantel der Freiheit wird ein eingebildetes Recht auf kritiklose Äußerung verteidigt.
Wissenschaft und Werte sind aber untrennbar miteinander verknüpft. Was wir brauchen, ist also eine umfassende Kritik dieser Werte. Der deutsche Philosoph und Sozialwissenschaftler Robin Celikates schreibt dazu gemeinsam mit Kolleg*innen in einem Zeit-Artikel 2021: „Wer hat die Macht, wessen Freiheit mit welchen Mitteln zu verteidigen – und wessen Freiheit und welche Wissenschaften bleiben dabei auf der Strecke?“
Es gibt sie bereits, diese Kritik. Die feministische Standpoint Theory von Autor*innen wie Donna Haraway und Sandra Harding zum Beispiel liefert dazu Ansätze. Sie verstehen das Erlangen von Wissen vor allem als sozialen Prozess im Austausch mit anderen. Entsprechend ist auch das erlangte Wissen (implizit) durch soziale und moralische Werte gekennzeichnet. Wichtig ist zu hinterfragen, aus welcher sozialen Position heraus die Wissen-Schaffenden agieren. Denn, manche Positionen innerhalb der Gesellschaft sind besser dazu geeignet als andere, bestimmte Arten von Wissen zu generieren.
Ein Beispiel: Einer Wissenschaftlerin of Color werden rassistische Vorannahmen in einem Forschungsprojekt eher auffallen als anderen Kolleg*innen. Aufgrund ihrer sozialen Position in einer durch Machtstrukturen und rassistischen Hierarchien geprägten Gesellschaft bringt sie gelebtes Erfahrungswissen mit, das andere nicht besitzen.
Aus welcher Position heraus agiert das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit? Es handelt sich um zumeist promovierte Wissenschaftler*innen, der Großteil von ihnen ausgestattet mit Professuren und einer medialen und akademischen Plattform, die ihnen zuhört. Anders als in Ländern, in denen Wissenschaftler*innen um ihren Job oder gar um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie sich kritisch gegenüber den Positionen der Herrschenden äußern.
Wissenschaftsfreiheit ist, ebenso wie Meinungsfreiheit, nicht gleichbedeutend mit der Freiheit von Kritik und Konsequenzen als Reaktion auf die getätigten Aussagen. Um ihren Wert für unsere Gesellschaft zu bewahren, müssen wir Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht ernst nehmen, und dennoch kritisch hinterfragen, wer sie für sich beansprucht, und warum. Pluralismus in der akademischen und öffentlichen Debattenkultur zu fordern, bedeutet auch auszuhalten, wenn die Gegenseite von dieser Forderung Gebrauch macht.
Celikates, Robin, Katharina Hoppe, Daniel Loick, Martin Nonhoff, Eva von Redecker, Frieder Vogelmann. 2021. „Wissenschaftsfreiheit, die wir meinen.“ Zeit Online, 18. November 2021. https://www.zeit.de/2021/47/wissenschaftsfreiheit-universitaeten-cancel-culture-kathleen-stock.
Haraway, Donna. 1988. “Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspectives.” Feminist Studies 14, no. 3: 575-99.
Harding, Sandra. 1991. Whose Science? Whose Knowledge?: Thinking from Women's Lives. Ithaca: Cornell University Press.