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Achtung Zensur?

Expertengespräche zu einem umstrittenen Begriff

grafische Überwachungskamera
© Janice Jensen

Achtung Zensur?

Expertengespräche zu einem umstrittenen Begriff

Die Gesprächsreihe im Rahmen des Programms "Eine Uni - ein Buch" wird das komplexe Phänomen "Zensur" vor dem Hintergrund von Nikola Roßbachs Buch von unterschiedlichen Seiten beleuchten, und das Publikum ist herzlich eingeladen mitzudiskutieren.

 

Diskussion mit Richard Gebhardt und Alexander Grau

15. Juli 2022, 19.30 Uhr, Plenarsaal des Zentrums für interdisziplinäre Forschung

Es ist kaum zu leugnen: Der Zensur-Vorwurf hat längst inflationäre Dimensionen erreicht, etwa von Querdenkern, wenn es medialen Widerspruch gegen deren Verschwörungstheorien und wissenschaftlicher Expertise nicht standhaltenden Positionen gibt. Jenseits von kruden „Lügenpresse“- Behauptungen bleiben aber genug Phänomene im öffentlichen Diskurs, die in einer liberalen Demokratie, in der Zensur laut Grundgesetz nicht stattfindet, aufmerksam beobachtet werden müssen: Wie sieht es mit der Kontrolle von Netz-Inhalten aus? Welche Grenzen gibt es für die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit? Wie weit darf Satire gehen? Oder ganz aktuell: Darf man russische Sender einfach verbieten oder ist auch deren schwer erträgliche Propaganda letztlich von der Meinungsfreiheit gedeckt? Die Publizisten Richard Gebhardt und Alexander Grau diskutierten von unterschiedlichen politischen Grundüberzeugungen ausgehend zum Thema "Zensur". Die Moderation übernahm wieder der Philosoph Niklas Eickhoff.

Portraitfoto von Richard Gebhardt

Richard Gebhardt M.A. ist Politikwissenschaftler, Publizist und Referent in der Erwachsenenbildung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. die Neue Rechte, die Politische Kultur der Bundesrepublik und der USA sowie Fußball und Gesellschaftspolitik. 2017 erschien der von ihm herausgegebene Sammelband »Fäuste, Fahnen, Fankulturen. Die Rückkehr der Hooligans im Stadion und auf der Straße«.

Portraitfoto von Dr. Alexander Grau

Dr. Alexander Grau promovierte in Philosophie und arbeitet als freier Journalist und Publizist für renommierte Zeitschriften, Zeitungen und Rundfunksender. Aktuell vor allem für NZZ, Weltwoche, CICERO und SPIEGEL. Seit 2013 ist er Online-Kolumnist („Grauzone“) bei CICEROonline. Seine letzten Buchveröffentlichungen sind „Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität“ (2019) und „Entfremdet. Zwischen Realitätsverlust und Identitätsfalle“ (2022).

Wo endet Meinungsfreiheit und wann fängt Zensur an?

Eigentlich ist es ganz klar: Das Grundgesetz schließt staatliche Zensur in Deutschland aus. Zensurfreiheit bedeutet aber nicht grenzenlose Meinungsfreiheit. Diese wird mit guten, manchmal aber auch schwer durchschaubaren Gründen durch Strafrecht, Persönlichkeitsrechte oder auch das Urheberrecht eingeschränkt. Wo die Grenzen der Meinungsfreiheit liegen, muss von Fall zu Fall immer wieder neu bestimmt werden, und der Zensurvorwurf ist dabei dann schnell zur Hand. Fragen der Wissenschafts-, Kunst- und Pressefreiheit, des Umgangs mit Verschwörungstheorien oder der Kontrolle von Netzinhalten, um nur weniges zu nennen, sind zurzeit heiß umstritten. Gut, wenn man sich dazu an ausgewiesene Experten halten kann. Am 4. April 2022 diskutierten Dr. Bodo Pieroth, emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, und Dr. Thomas Wischmeyer, Professor für Öffentliches Recht und Recht der Digitalisierung an der Uni Bielefeld in einer öffentlichen Veranstaltung im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) über Aktuelles zur Zensur oder das, was oft dafür gehalten wird. Das Publikum war anschließend zu Fragen und eigenen Statements eingeladen. Moderator war der Philosoph Niklas Eickhoff.

Portraitfoto von Prof. Dr. Bodo Pieroth
© Bodo Pieroth

Prof. Dr. Bodo Pieroth gilt als einer der führenden Experten für die Grundrechte und ist nicht zuletzt als Kommentator des Grundgesetzes hervorgetreten. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen zudem Staatsorganisationsrecht, Polizei- und Ordnungsrecht, Verfassungsgeschichte sowie Recht und Literatur. Pieroth meldet sich in Grundrechtsfragen auch außerhalb der Scientific Community mit prononcierten Beiträgen publizistisch zu Wort und ist zugleich ein gesuchter Politikberater.

Portraitfoto von Prof. Dr. Wischmeyer
© Paul Schrader

Prof. Dr. Thomas Wischmeyer lehrt Öffentliches Recht und Recht der Digitalisierung an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld und forscht auf dem Gebiet des deutschen und europäischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts. Sein besonderes Interesse gilt dem Recht der Informationsgesellschaft und der Rechts- und Verfassungstheorie. 2018 wurde Thomas Wischmeyer in die Datenethikkomission der Bundesregierung berufen. Sein wissenschaftliches Werk wurde vielfach mit Preisen ausgezeichnet.

 

 

Bedrohung der Demokratie durch Zensur und Cancel Culture – heiße Luft oder echte Gefahr?

Am 25. Oktober 2021 fand im Plenarsaal des Zentrums für interdisziplinäre Forschung das Expertengespräch zum Thema "Bedrohung der Demokratie durch Zensur und Cancel Culture – heiße Luft oder echte Gefahr?" statt. Bei unserer ersten Präsenzveranstaltung zu unserem Themenschwerpunkt "Zensur" diskutierten Prof. Dr. Nikola Roßbach (Universität Kassel) und Prof. Dr. Matthias Lorenz (Leibniz-Universität Hannover) über Zensur und Cancel Culture als (vermeintliche?) Gefahren für unsere Demokratie. Die Moderation übernahm Steven Hartig vom Campusradio Hertz 87,9.

  • Steven Hartig (Hertz 87,9), Prof. Dr. Nikola Roßbach und Prof. Dr. Matthias Lorenz
    Steven Hartig (Hertz 87,9), Prof. Dr. Nikola Roßbach und Prof. Dr. Matthias Lorenz
  • Publikum im Plenarsaal des Zentrums für interdisziplinäre Forschung
    Plenarsaal des Zentrums für interdisziplinäre Forschung
  • Steven Hartig (Hertz 87,9), Prof. Dr. Nikola Roßbach und Prof. Dr. Matthias Lorenz
    Steven Hartig (Hertz 87,9), Prof. Dr. Nikola Roßbach und Prof. Dr. Matthias Lorenz

Bedrohung der Demokratie durch Zensur und Cancel Culture – heiße Luft oder echte Gefahr?

Freundlicherweise hat Prof. Matthias Lorenz eine Transkription seiner Diskussion mit Prof. Nikola Roßbach zur Verfügung gestellt, die Sie hier nachlesen können. Diese Transkription findet sich auch auf dem prominenten Portal „literaturkritik.de“

 

Hartig:

Bedrohen Zensur und Cancel Culture unsere Demokratie? Wie steht es wirklich um die Meinungsfreiheit, die Kunstfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit im Jahr 2021? Nicht gut, sagt zum Beispiel das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit.: „Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll. Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauungen und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind.“ Frau Roßbach, stimmen Sie zu, ist die Wissenschaftsfreiheit in dem Maße gefährdet in Deutschland?

 

Roßbach:

Ich finde, man muss immer sehr genau hinschauen. Es gilt immer noch Grundgesetz Artikel 5.3: Forschung und Lehre sind frei, im Gegensatz zu manch anderen Ländern, wo Wissenschaftler*innen daran gehindert werden tatsächlich zu forschen oder zu lernen, wo sie verfolgt und bedroht werden. Ein türkischer Kollege von mir war als Mitunterzeichner der Petition der Academics for Peace 2016 angeklagt und musste um seine Freiheit fürchten, so etwas ist ganz anders einzuordnen. Persönlich bin ich tatsächlich noch nie an irgendetwas gehindert worden. Das will ich erstmal so festhalten und würde auch denken, dass ich im Ernstfall darauf bestehen würde, weiter an dem forschen zu können, was ich will. Nun gibt es eben diese vielen, vielen Einzelfälle, bei denen man sich eben fragen kann: Summiert sich das Bild der Einzelfälle zu einem großen Fall von Wissenschaftsunfreiheit? Das lasse ich zunächst so stehen mit einem Fragezeichen. Vielleicht können Sie das ja beantworten, Herr Lorenz.

 

Lorenz:

Man könnte polemisch antworten und sagen: Ja, es gibt zumindest eine quasi zensorische Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit da, wo Feministinnen angegriffen werden, wo Antisemitismusforscher angegriffen werden, wo Klimaforscher oder Virologen angegriffen werden. Das findet tagtäglich statt. Da kriegt man Drohbriefe, aus der Antisemitismusforschung weiß ich das selber und ich weiß von Kolleginnen, die zum Beispiel feministische Theoriezeitschriften herausgeben, dass sie sehr regelmäßig bombardiert werden mit Versuchen, sie einzuschüchtern und auch mundtot zu machen. Da würde ich sagen, findet das statt. Aber das ist ja nicht die Gruppe, die sich in diesem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit versammelt. Da gehe ich nicht mit, dass wir da irgendwie bedroht werden. Warum regen die sich denn darüber auf und nicht, dass in Ungarn oder Polen tatsächlich Wissenschaftler*innen verfolgt und mundtot gemacht werden oder Gerichtsurteile angestrengt werden, um Holocaustforscher, die zu polnischen Verstrickungen in dem Vernichtungsapparat Kritisches geschrieben haben, plötzlich zu kriminalisieren? Also ich finde, das kann man eigentlich nur polemisch beantworten.

 

Hartig:

Es gibt ja noch ein zweites Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, das ganz andere Akzente setzt. Aber bleiben wir nochmal kurz bei diesem. Das wird mittlerweile von 600 Hochschulangehörigen unterstützt, darunter unglaublich viele – zwei Drittel – Professor*innen. Das ist also wirklich nicht irgendwer, sondern es sind ranghohe Leute, die sagen, es herrscht ein Konformitätsdruck in der Wissenschaft. Zitat: „Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden.“ Herr Lorenz, Sie beschäftigen sich gerade mit Cancel Culture. Jetzt gibt es einige vielleicht, die haben von diesem Begriff mal gehört, aber können sich vielleicht noch nicht so viel darunter vorstellen. Auf den ersten Blick würde ich sagen, das klingt nach Cancel Culture. Ist das für Sie die Definition, so eine vorläufige, oder spielt da noch mehr mit hinein?

 

Lorenz:

Tut mir leid, dass ich darauf auch wieder nur polemisch antworten kann, aber ‚Cancel Culture‘ ist eben genau das, was da betrieben wird: Man sucht sich einen Begriff, mit dem man ein bestimmtes Begehren abwehrt, indem man ihm dieses Label verpasst. Das haben wir alle vor 20, 30 Jahren schon mal mit einem anderen Label miterlebt, nämlich ‚Political Correctness‘. Das ist auch etwas, was im Grunde nur von seinen Gegnern erschaffen worden ist als Label, was man jemandem überstülpen kann, um seine Position zu schwächen. Es ist auch damals eher ein kulturkonservativ rechtes Projekt gewesen, diesen Begriff ‚Political Correctness‘ zu setzen und damit bestimmte Begehren nach einer Aufweichung von Normalitätsvorstellung hin zu einer diverseren Gesellschaft abzuwehren. Das passiert jetzt eben mit dem ‚Cancel-Culture‘-Vorwurf, Wobei man schauen muss, welche Beispiele man überhaupt darunter fasst, also geht es um eine Kabarettistin, der eine Bühne verwehrt wird, oder meint man die Ausladung von bestimmten Vortragenden aus der Universität? Solche Fälle gibt es und die kann man auch diskutieren. Zensur fängt für mich aber erst da an, wo die Kommunikation wirklich unterbunden ist, und mein Eindruck ist, dass Cancel Culture da, wo tatsächlich als Ausdruck eines Aktivismus gecancelt wird, eigentlich Öffentlichkeit geschaffen wird. Man kann das meinetwegen auch als Anprangerungsgestus bezeichnen, aber der hat ja zur Folge, dass darüber gesprochen wird. Was wir jetzt aber aus diesem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit erleben, ist doch eigentlich der Aufschrei der Unantastbaren. Sie haben es selber gesagt, das sind alles Beamte, alles Leute wie Sie und ich. Wer will uns denn was? Wir haben hier solche Podien wie dieses, genauso wie etwa Herr Baberowski, der lange sehr erfolgreich gewesen ist. Dann kann man auch im Forum des Deutschen Bundestages oder in Talkshows sitzen und seine Meinungen vertreten. Dann aber zu behaupten, man würde gecancelt, erscheint mir unanständig.

 

Hartig:

Es gibt ja, ich habe es eben erwähnt, ein zweites Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, nennt sich genauso, hat auch fast die gleiche Internetadresse, bloß .org und nicht .de, das sich sehr klar abgrenzt von dem anderen. Die schreiben zum Beispiel: „Wissenschaftsfreiheit ist vor allem durch bestimmte historisch gewachsene Verhältnisse von Macht eingeschränkt, deren Strukturen und Wirkweisen wenige Menschen, Perspektiven und Geografien bevorzugen.“ Die Wissenschaft sei kein unschuldiger Ort. Frau Roßbach, was sagt das über die wissenschaftliche Community, wenn die sich nicht mal darauf einigen können, was Wissenschaftsfreiheit eigentlich bedeutet?

 

Roßbach:

Das ist doch normal. Wir wissen doch auch alle nicht, was Literatur ist, was Diskurs ist, was das Leben ist, was Kultur ist. Also damit habe ich jetzt gar kein Problem, dass man auch darüber debattieren muss und das nicht wirklich definieren kann. Jeder große Begriff hat immer ausfransende Ränder. Ich finde es aber gut, dass Sie darauf hinweisen, dass Sie den Fokus darauf legen, dass Wissenschaft eben nicht im luftleeren Raum stattfindet. Das ist eben dieses zweite Wissenschaftsnetzwerk, das zeigt, dass es eben doch darauf ankommt, wer spricht, dass es eben doch darauf ankommt, wer welche Position hat. Ich würde mit diesem ersten, konservativen Wissenschaftsfreiheitsnetzwerk natürlich mitgehen, wenn es sagt, Forschung und Lehre sind frei. Das ist klar, wir sind ja alle für diesen Grundgesetzartikel und natürlich möchten wir auch nicht mit moralischen Standards oder mit moralischen Reglementierungen unsere Forschung und Lehre eingefroren bekommen. Aber darum geht es ja hier gar nicht. Es geht eher darum, dass man hinterfragt, wer gerade spricht – und dass man seine Redeposition reflektiert. Und das geschieht eben nicht, wenn man aus einer hegemonialen Position einer Professur sagt: „Mensch, ich muss doch noch weiterhin alles sagen dürfen“. Dieses „alles immer überall sagen dürfen“ hört sich erstmal so aufgeklärt an. Selbst würde ich das ja auch immer erstmal behaupten: Man darf mir doch nicht den Mund verbieten. Man muss jedoch einen Schritt weiterdenken: Worauf beruht denn dieses ‚normale‘ Bewusstsein von Meinungsfreiheit? Es basiert auf dem universalaufgeklärten ‚weißen‘ Gedanken der Meinungsfreiheit, die auf imperialistischen und kolonialistischen Fundamenten des 18. Jahrhunderts beruht. Das ist uns nicht immer klar. Wer spricht bei Podiumsdiskussionen? Auch wir heute sind alle weiß; immerhin sitzt eine Frau dabei. Es ist eine Tatsache, dass die Redemacht immer noch ungleich verteilt ist. Und genau auf diese Wunde legen die Menschen, die der Cancel Culture bezichtigt werden, ihren Finger. Das heißt nicht, dass ich alles gut finde, was sie machen, aber dazu können wir später noch kommen.

 

Hartig:

Ich würde gern ein bisschen genauer nachhaken wollen, wo die Zensur anfängt. Ich bin beim Lesen Ihres Buches einmal aufgeschreckt, als Sie eine Zahl des Free Speech University Rankings aus Großbritannien zitieren: Zwei Drittel der Hochschulen wenden dort demnach bereits zensurähnliche Praktiken an. Das hat mich erstmal überrascht: Was bedeutet das? Ist das auf Deutschland übertragbar?

 

Roßbach:

Es gibt ganz viele verschiedene Möglichkeiten, Zensur zu definieren, man kann eine ganze Skala von Begrifflichkeiten feststellen. Am einen Ende steht der verfassungsrechtliche Zensurbegriff, der auch in unserem Grundgesetz steht, wenn es heißt „Eine Zensur findet nicht statt“. Das ist ein ganz enger Begriff, der bedeutet: Staatliche Vorzensur findet nicht statt. Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat. Der böse Staat darf nicht unser Recht auf Meinungsfreiheit einschränken. Das ist das Einzige, was das Zensurverbot im verfassungsrechtlichen Sinne verbietet. Deshalb könnte man, wenn man nur diesen engen Begriff hat, keine andere Kontroll-, Disziplinierungs- oder Beschränkungsstrategie, die in der Gesellschaft vorkommt, als Zensur bezeichnen. Die meisten sehen das aber nicht so eng, sondern haben einen viel weiteren Begriff. Am anderen Ende der Begriffsskala findet man das so genannte New Censorship, Forscher*innen, die davon ausgehen, dass alle möglichen Selektionsmechanismen in der Gesellschaft Zensur darstellen. Hier wird kritisch gesehen, dass es überhaupt Kontroll-, Beschränkungs- und Reglementierungsmechanismen aller Art gibt; und in diesem Kontext gibt es sogar Forscher, die sagen: „Wenn ich spreche, zensiere ich mich selbst, genau dann, wenn ich ein Wort wähle und ein anderes dafür auslasse“. Das ist natürlich eine brillante Idee, aber nicht operabel für eine historische Zensurforscherin wie mich zum Beispiel. Es ist ein sehr weites und vages Zensurverständnis, wenn man behauptet, es sei Zensur, wenn die Mutter abends sagt: „Geh ins Bett“, Tischsitten, Verkehrsschilder oder Dresscode seien Zensur – dann ist fast alles Zensur. Persönlich halte ich mich auf dieser Zensurbegriffsskala von eng zu weit relativ in der Mitte auf – oder sagen wir mal Mitte links, ein bisschen mehr Richtung enger Zensurbegriff. Für mich muss Zensur immer eine organisierte, systematische und institutionelle Form der Kontrolle von Meinungsbeschränkung sein, nicht etwa eine einmalige Aktion einer privaten Person.

Um zurückzukommen auf diese englischen Beispiele: Wenn die Einschränkung tatsächlich von einer Universitätsleitung ausgeht, die ihre Studierenden zum Beispiel mit sprachlichen Reglementierungen dazu auffordert, sich so und so zu verhalten, und man ansonsten mit Sanktionen zu rechnen hätte – dann ist das meines Erachtens definitiv Zensur: Eine Universität ist eine große Institution, die in diesem Fall systematisch, strukturell und auch formell Meinungsfreiheit einschränkt.

 

Lorenz:

Man könnte natürlich fragen: Gehört es zu meiner Meinungsfreiheit, bestimmte Worte zu benutzen? Das ‚N-Wort‘, das ‚Z-Wort‘ oder sowas. Ist das eigentlich ein Zugewinn meiner Freiheit, wenn mir diese Worte weiterhin zur Verfügung stehen, oder ist es nicht legitim, dass Organisationen wie eben auch Unis, die ja ein Subsystem der Gesellschaft sind, sich eine bestimmte Unternehmensphilosophie und einen Code geben, in dem die Dinge verhandelt werden sollen. Ich bin sehr dafür, das wirklich jeweils konkret am Fall zu entscheiden. Worum geht es denn da eigentlich? Also wenn es jetzt um Speech Codes geht: Was benennen diese Speech Codes denn? Die Speech Codes aus den 90er Jahren in den USA benannten doch vor allem minoritäre Gruppen: dass man sich daran halten möge, wie diese Gruppen selbst bezeichnet werden möchten. Mir das zuzumuten, finde ich noch nicht zensorisch. Und da es ja in diesem Land dann eh nicht komplett in allen Bereichen durchgesetzt würde, sondern eine Institution sich das auf ihre Fahne schreiben würde, bin ich ehrlich gesagt nicht so besorgt. Ich finde es immer interessant, wenn man sich die Abwehrargumente anguckt. Eins davon haben Sie auch sozusagen zitierend gerade angeführt: „Ich möchte mir so moralische Vorschreibungen nicht machen lassen“. Man kann ja auch nochmal einen Schritt zurücktreten davon und sich fragen: Diese Kritik am übersensiblen Sprachgebrauch, diese Kritik an den moralischen Geboten usw., eigentlich ist die ja ganz schön schwer aufrechtzuerhalten. Mit welchen Gründen sage ich eigentlich, ich will unmoralisch sein? Und dann kommen wir in den Bereich, wo es darum geht: Okay, wir müssen miteinander aushandeln, nach welchen Normen wir agieren wollen. Welche Moral soll denn hier jetzt eigentlich gelten? Da wird man nicht auf einen Konsens kommen. Das muss man ja auch gar nicht in der demokratischen Gesellschaft. Interessant finde ich immer, dass sehr kurzschlüssig dieses Argument „Wir wollen jetzt ja auch nicht moralin sein und irgendwie übersensibel“ usw. vorgeschoben und dann gar nicht mehr darüber diskutiert wird, welche Wertediskussion hier angebracht wäre, sondern es wird gleich der Popanz aufgebaut: „Cancel Culture, ich darf ja nichts mehr sagen“ – und das „nicht mehr“ verrät ja alles. Also das Festhaltenwollen an etwas: „Das haben wir doch schon immer so gemacht. Warum soll das jetzt nicht mehr gut sein, N… zu sagen? So bin ich aufgewachsen, das war doch immer fein und ich habe doch auch nichts gegen schwarze Menschen.“ Also dieses Übergehen der Frage, wo sind denn eigentlich die Werte und die Normen, die sich doch anpassen? Als ich 1973 geboren wurde, war diese Gesellschaft in Bezug auf Fragen von Herkunft oder race ganz überwiegend homogen und weiß. Das ist sie heute so nicht mehr. Heute haben wir 25 Prozent Menschen, die eine sogenannte Migrationsgeschichte mitbringen, und ich finde das gut so, andere finden das nicht gut so, aber das ist ja die gesellschaftliche Realität. Dass diese Menschen Forderungen stellen, an der Wertedebatte beteiligt zu werden, darin gesehen zu werden, ist, glaube ich, legitim. Zumindest solange wir uns auf die Staatsform Demokratie einigen. Das sind die Versprechungen, die dieses politische System macht, die wir dann auch einlösen müssen. Mit 25 Prozent ist man heutzutage eine Volkspartei.

 

Roßbach:

Darf ich direkt antworten? Also ich gehe mit fast allem d’accord, aber mit der Kodifizierung dieser Reglementierungen habe ich trotzdem ein Problem. Ich finde immer, es sollte eine Frage des ethischen Sollens sein und nicht eine des von oben reglementierten Dürfens, zum Beispiel das N-Wort zu sagen. Ich würde es ja nie mehr sagen, aber ich möchte es eigentlich auch nicht verboten bekommen, weil es nicht rechtswidrig ist, es zu tun. Ich darf nicht den Holocaust leugnen, das ist rechtswidrig. Aber ich muss bis an die Grenze des Gesetzes alles sagen dürfen, dazu stehe ich, und deshalb steht in meinem Buch auch „Wir dürfen eben alle Arschlöcher sein“. Wir dürfen es. Es verbietet uns keiner, Arschlöcher zu sein. Aber wir müssen es nicht und erst recht sollen wir es nicht im ethischen Sinne. Und das ist eine genauso wichtige Frage, dass man sich zusammen überlegt: Wie wollen wir miteinander umgehen? Mit Respekt, mit Toleranz? Wie wollen wir, dass unsere Gesellschaft ist? Wie soll das Ethos unserer Gesellschaft aussehen? Das heißt, ich unterscheide immer eher zwischen dem Dürfen (und das geht bei mir ganz weit, genau bis an die Grenze des Gesetzes) und dem Sollen und dem darüber Sprechen: Was wollen wir sollen, so ungefähr.

 

Lorenz:

Das Schöne ist ja, dass tatsächlich – ich habe ja von den Unantastbaren gesprochen –, die Profs eben unantastbar sind. Solange ich den Holocaust nicht leugne, treibt mich nichts aus dem Beamtenverhältnis. Und auch Thilo Sarrazin hat extrem lang darum kämpfen müssen, bis man ihn aus der SPD geworfen hat. Also man kann sich schon eine ganze Menge erlauben in diesem Land, bevor tatsächlich irgendwelche Arten von Nichtdürfen oder „Du sollst nicht“ greifen. Stattdessen schreibt er jetzt Bestseller und wird noch mehr gehört. Die Uni und was an ihr eventuell an Speech Codes gilt, ist nicht die gesamte Gesellschaft, sondern es ist ein privilegierter Ausschnitt, der natürlich auch üben darf: Wie wäre es, wenn? Es passiert ja trotz alledem nichts, wenn man sich nicht beugt, das ist zumindest mein Eindruck. Es ist ein bisschen anders in den USA, wo man vielleicht tatsächlich aufgrund eines Shitstorms auch seine Stelle verlieren kann. Aber wenn wir für Deutschland sprechen, sehe ich auch diese Gefahr nicht, sondern ich sehe vor allen Dingen das Beschwören der Gefahr. Und komischerweise reden wir viel seltener über Gefahren, die Virolog*innen, Klimaforscher*innen usw. erfahren.

 

Hartig:

Sehr spannend. Die Frage ist Wie gehen Universitäten damit um? Wie gehen wir als Gesellschaft damit um? Sie sind sich einig, da gibt es zensurähnliche Mechanismen, aber ist das wirklich Zensur? Wo ist die Grenze? In Großbritannien gab es vor einigen Monaten die Idee, sogar ein Gesetz gegen Cancel Culture einzuführen. Die simple Idee: Wenn Wissenschaftler*innen von vermeintlicher Cancel Culture betroffen sind, z.B. irgendwo nicht reden können, kriegen sie einen Schadensersatz bzw. haben darauf einen Anspruch. Oder Universitäten, die nicht genug für Wissenschaftsfreiheit, nicht genug für Meinungsfreiheit eintreten, bekommen weniger Geld. Das wurde so diskutiert. Herr Lorenz, Sie sagen, dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit stimmen Sie nicht so richtig zu, aber Sie sagen auch: Genderforscher*innen, Leute in der Antisemitismusforschung werden von Zensur bedroht, sind davon betroffen.

 

Lorenz:

Werden bedroht. Ich würde aber in keinem dieser Fälle per se sofort ‚Zensur‘ schreien.

 

Hartig:

Aber sollte es Gesetze dagegen geben? Hat der Staat da eine Handhabe? Muss da mehr geschehen?

 

Lorenz:

Wir haben ein prima Grundgesetz. Wenn wir uns da alle dran halten, wäre vieles gut. Ich bin natürlich wirklich in der allerbesten Position, weil ich auch noch Wissenschaftler bin und dann noch diesen speziellen Grundrechtsschutz genieße, der mich da sogar nochmal gegenüber dem normalen Staatsbürger privilegiert. Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Aber ich finde es bemerkenswert, dass wir eigentlich eine Ablenkungsdebatte führen. Dafür kann man ja den Neoliberalismus auch bewundern, dass er einem immer wieder vorführt, wie bescheuert wir eigentlich sind: Wir reden über diese angebliche Blase linker totalitärer Vorstellungen aus einer professoralen Blase von Unantastbaren, die irgendwie mit Kritik nicht umgehen können, und das wird hochgekocht in sämtlichen redigierten wie sozialen Medien und auf Podien wie diesem dann wieder zerlegt. Sie haben das ja auch sehr schön in Ihrem Buch beschrieben, Frau Roßbach, dass die Beispiele medial immer unglaublich aufgebauscht und verkürzt erzählt werden, dass die Kontexte wegfallen, dass irgendwas in den USA passiert sei, usw. usf. Eigentlich sind das doch ganz schöne Papiertiger, gegen die da angekämpft wird, und es betrifft auch gar nicht so furchtbar viele Menschen in dieser Gesellschaft, die an dieser Diskussion aktiv beteiligt sind. Es wird sehr viel über andere Köpfe hinweg diskutiert. Worüber wir kaum reden – Sie tun das in Ihrem Buch –, sind die Filterfunktionen der großen Provider und auch der Umbau dessen, was man im weitesten Sinne in diesem Staat Zensur nennen kann, nämlich das, was die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (die inzwischen Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz heißt) macht: Dass man eben nicht mehr so wie in den 60er Jahren dort wirklich noch fragt: Günter Grass’ Katz und Maus, ist das pornografisch, müssen wir das verbieten, kommt das auf den Index? Das war ja noch eine öffentliche Debatte, die eben immer auch Öffentlichkeit geschaffen hat. Man wusste, wenn die Bundesprüfstelle das Buch nicht will, dann kauft man sich es erst recht. Aber heute erleben wir eine schleichende Privatisierung der Zensur, indem die Bundesprüfstelle versucht, alles auszulagern an die produzierenden Industrien, indem gesagt wird: „Ihr klärt das unter euch nach euren eigenen Branchenkodizes, was in die Öffentlichkeit kommt, und nur, wenn Ihr das verletzt, dann werden wir als Staat tätig.“ Das nennt sich das „System der regulierten Selbstregulierung“, und das ist so ein typisches Regierung-Merkel-Produkt, auch wenn Frau Merkel selbst vielleicht noch nie was davon gehört hat, aber das ist ein absolut wahnwitziges Modell. Für mich ist Zensur, dass Dinge nicht kommuniziert werden können. Wenn sie nicht diskutiert werden, dann findet wirklich Zensur statt. Diese Praktiken werden in den Bereich der Privatwirtschaft verschoben und da haben wir als demokratische Öffentlichkeit wirklich keinen Zugriff mehr. Dann können wir das gar nicht kritisch diskutieren und können uns als Gesellschaft nicht herausfordern lassen von dem Verstoß und können auch nicht unsere Normen anpassen an das, was da zu diskutieren wäre. Das findet im Grunde in einem global gesehen lächerlichen Maßstab in Deutschland statt über das System der regulierten Selbstregulierung, mit den Freiwilligen Selbstkontrollen in der Spielewirtschaft, der Filmwirtschaft, usw. Es gibt inzwischen relativ wenige Branchen, die da noch ausgenommen sind. Aber was im globalen Maßstab (und das ist sehr gut in „Achtung Zensur“ beschrieben) über die Filterfunktion der großen Anbieter Google, Meta usw. passiert, darüber reden wir überhaupt nicht. Wir reden über so ein paar Linke, die sich über irgendeine Sauce beschweren, und über so ein paar Baberowskis, die die Fassung verlieren, wenn ihnen ein trotzkistisches Plakat vor die Nase geklebt wird. Das ist doch absurd.

 

Hartig:

Warum reden wir darüber nicht? Wer versagt da?

 

Lorenz:

Weil zu wenige Leute das Buch gelesen haben, was Frau Roßbach geschrieben hat? Wobei vielleicht lesen es ja auch ganz viele.

 

Roßbach:

Weil vielleicht auch tatsächlich Zensur inzwischen so oft verwendet wird, dass sie zunehmend verharmlost wird. Ich habe in dem Buch an einer Stelle geschrieben, dass man womöglich irgendwann einen neuen Begriff für ‚Zensur‘ braucht, weil es kein scharfes Messer mehr ist, um tatsächliche Formen von Meinungsfreiheitseinschränkungen wahrzunehmen. Alle blöken ständig „Zensur, Zensur“ – von rechts natürlich sowieso: Es ist ein absoluter Lieblingsbegriff der Neurechten, Stichwort Selbstviktimisierung: „Wir dürfen ja nichts mehr sagen, heul….“ Aber auch im Feuilleton ist Zensur ein Begriff, der alle naselang verwendet wird für alle möglichen Einschränkungen, wo ich immer überlege: Moment, jetzt wartet erstmal: Ist das wirklich Zensur? Ich würde zum Beispiel den Esra-Prozess niemals als Zensur bezeichnen. Es war ein öffentlicher Gerichtsprozess in einem demokratischen Rechtsstaat und natürlich kann man das Urteil kritisieren.

 

Hartig:

Können Sie nochmal kurz sagen, worum es in dem Prozess ging? Für alle Nichtliteraturwissenschaftler*innen …

 

Roßbach:

Maxim Billers Buch Esra, 2003 erschienen, bekam ein Veröffentlichungsverbot nach mehreren Gerichtsverfahren, am Ende ging es bis vors Bundesverfassungsgericht, und das Problem war eben, dass eine Ex-Freundin von ihm wegen Verletzung ihrer persönlichen Ehre geklagt hat und auch Recht bekommen hat. Da kann man sich natürlich fragen: Welches Rechtsgut wiegt mehr, die Kunstfreiheit oder das Recht der persönlichen Ehre? Es sind aber beides Grundrechte laut Grundgesetz und insofern ist das ein demokratischer Aushandlungsprozess gewesen von einem öffentlichen Gericht mit Klägerinnen und Verteidigern. Da wird auch in meiner Disziplin, der Literaturwissenschaft, immer schnell „Zensur“ gerufen – was ich bestreite. Zensur wäre, wenn ein Obrigkeitsstaat eine Präventivkontrolle ausübt und der Band gar nicht hätte erscheinen können.

 

Hartig:

Ich bin jetzt ganz stur und komme nochmal zu den Hochschulen zurück, weil ich über einen Punkt noch mit Ihnen sprechen wollte: die Safe Spaces. Mit denen beschäftigen Sie sich auch in Ihrem Buch. Hier an der Uni haben wir zum Beispiel das Café Anaconda, einen Wohlfühlraum, einen Schutzraum für Studierende, der eben auch entsprechende Zutrittsregeln kennt usw. Kontrovers diskutiert werden solche Safe Spaces vor allem dann, wenn es den Unibetrieb betrifft, also wenn Studierende sagen „Hey, mein Seminar, meine Vorlesung soll bitte gefälligst ein Safe Space sein“. Frau Roßbach, Sie urteilen in Ihrem Buch - ich nehme das mal vorweg - ziemlich hart über Safe Spaces, finde ich. Ist die Wissenschaftsfreiheit dadurch wirklich gefährdet?

 

Roßbach:

Nein, nicht die Wissenschaftsfreiheit ist dadurch gefährdet. Ich sehe die Uni einfach als einen Ort, der aufs Leben vorbereiten muss und in dem man kontrovers debattieren muss, in dem man die Meinung anderer kennenlernen muss. Es ist kein therapeutischer Ort. Das Konzept Safe Space kommt ja aus dem Therapeutischen und da, finde ich, ist es absolut legitim und absolut notwendig, dass die Anonymen Alkoholiker*innen zum Beispiel in einem sicheren Raum sind und sich dort unterhalten können, aber dann, wenn diese Therapiesitzung vorbei ist, geht es eben wieder ins Leben hinaus. Das Konzept der Safe Spaces an der Universität, wie es in Amerika zum Beispiel realisiert wird, ist ja, dass man sich zum Beispiel während einer Vortragsveranstaltung, die ein kontroverses Thema hat, parallel in einen Safe Space zurückziehen kann, wenn man das nicht aushält. Kritiker*innen sprechen – etwas polemisch natürlich – von der „Snow Flake Generation“, und mich befremdet es ehrlich gesagt auch. Wenn man persönlich ein Problem mit einem Thema hat, braucht man ja einfach nicht zu dem Vortrag hinzugehen. Also ich persönlich kann auch manche Filme überhaupt nicht gucken. Dann gehe ich aber einfach nicht ins Kino.

Für mich ist die Uni ein robuster Ort, wo man Kontroversen aushalten muss und wo man auch zum Beispiel, wenn man Jurastudentin ist, ertragen muss, dass das Wort „verletzen“ einem begegnet. Das ist ja so ein typisches Beispiel aus 2014, dass die Harvard-Professorin Jeannie Suk berichtet hat, dass das Wort „violate“ nicht mehr verwendet werden sollte, weil es die Studierenden getriggert hat, die schon mal in ihrem Leben verletzt wurden, und zwar auch in dem Kontext „violate the law“, also „das Gesetz verletzen“. Wenn man in Jura nicht mehr von Gesetzesverletzungen sprechen darf, das wäre so, als dürfe man in der Medizin nicht mehr vom Tod sprechen oder in der Literatur… eigentlich von allen Problemen, die das Leben so hergibt.

 

Lorenz:

Das Problem ist doch aber, dass wir auf solche Anekdoten reinfallen, wenn wir sie immer gleich verallgemeinern, und ich glaube, das kann man nicht. Ich habe vor zwei Wochen auf einer Tagung mit Liliane Weissberg gesprochen, die an der Penn State ist, also eine der Ivy League Universitäten in den USA, die also wirklich immer bei allem vorne mit dabei sind, und die sagte „Safe Space, was soll das sein? Kenne ich nicht, ist mir noch nie begegnet“. Selbst so ein absurdes Einzelbeispiel wie „violate the law“ oder in der Ausbildung von Jurist*innen dürfe man den Tatbestand der Vergewaltigung nicht mehr benennen – es mag solche Einzelbeispiele geben. Ich glaube aber, auch den allermeisten Jurastudent*innen in den USA ist klar, dass eine solche Beschränkung nicht sehr dienlich wäre, wenn man Jurist*in werden möchte. Und auch größere Konzepte, Speech Codes oder Safe Spaces, sind nicht flächendeckend. In Deutschland scheint es mir bisher noch überhaupt kein Problem zu sein oder wahrnehmbar Auswirkungen auf uns zu haben. Wir haben natürlich als Germanistin und Germanist in gewisser Weise besonders zu kämpfen, weil wir ständig über Dinge sprechen, die auch nicht mehr so ganz ‚pc‘ sind, wenn ich etwa mit Kleists „Verlobung in Sankt Domingo“ arbeite. Die meisten Traditionsbestände unserer Nationalphilologie sind aus bestimmten Perspektiven auch kritisch zu betrachten. Ich bin auch kein Freund davon, dass wir Safe Spaces an der Uni einrichten, zumindest nicht als Teil des Seminars. Ich möchte auch eigentlich keine Triggerwarnung aussprechen. Aber ich glaube, wir könnten uns auch anders zu diesem Problem verhalten. Wir könnten ja auch das ganz offensiv ansprechen und die Studierenden neugierig darauf machen, sagen „Hey, jetzt ist mal nicht mehr der Safe Space der Schule, wo der Lehrer vorgespult hat am Medienwagen, wenn die Nacktszenen kamen. Jetzt dürft Ihr auch de Sade lesen und dann können wir auch total kritisch darüber sprechen, aber der ‚heiße Scheiß‘, der kommt jetzt“. Also da bin ich total bei Ihnen, die spannenden Sachen sollen jetzt in der Uni passieren, unbedingt!

 

Roßbach:

Ich glaube aber ehrlich gesagt nicht, dass es eine Ausnahme ist in den USA. Zumindest kenne ich es anders auch von Kollegen und Kolleginnen dort, die ich darauf anspreche. Einer berichtete, auf dem Land sei es noch viel schlimmer, also in Provinzuniversitäten. Ich habe ihn gefragt „Wie arbeitet man bei euch?“, und er meinte „Es ist wie Eierlaufen. Man ist immer mit einem Bein im Gefängnis, weil man immer irgendwo irgendeinen kleinen Fehler machen könnte“. 2016 hatte die Universität Chicago extra betont: „Bei uns gibt es keine Triggerwarnings“. Ich denke, es ist relativ verbreitet. Bei uns in Deutschland eben noch nicht so. Bei Triggerwarnings geht ja jetzt die Uni Bonn vorweg und hat damit natürlich auch eine Kontroverse jetzt ausgelöst. Also ich könnte für jedes meiner Bücher, das ich in Seminaren bespreche - ich lehre viel 17. und 18. Jahrhundert - Triggerwarnings aussprechen. Es geht immer nur um Mord und Totschlag, Brudermord, Vergewaltigung, Kindsmord. Eigentlich ist ein Germanistikstudium keinem zuzumuten. Wir könnten direkt bei der Immatrikulation eine Triggerwarnung aussprechen: „Sie kommen mit heiklen Inhalten in Kontakt“.

Ich will ja überhaupt nichts sagen gegen Menschen, die wirklich eine problematische Grundsituation haben und labil sind. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass alle Studierenden grundsätzlich und ganz prinzipiell eine therapeutische Umgebung brauchen. Und das mit den Triggerwarnungen schafft eine therapeutische Umgebung. Das ist eine Veränderung der Universität, die ich nicht gerne sehe.

 

Lorenz:

Vielleicht nur nochmal, um die Einzelbespielthese zu untermauern: Natürlich gibt es Fälle. Aber ich glaube, man muss wirklich immer gucken, bevor man auch die Kritik daran importiert oder sich systemische Sorgen wie das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit macht, was für Einzelfälle das sind. Und die sind oft sehr unterschiedlich gelagert. Die haben zum Teil bestimmte historische und ethnische Kontexte, wenn es zum Beispiel um kulturelle Aneignung geht, die man sich auch bemühen kann zu verstehen. Was ja nicht heißt, dass es nicht auch Fälle gibt, wo ich sage „Das verstehe ich überhaupt nicht, da gehe ich auch nicht mit und den Schuh ziehe ich mir auch als weißer Mann nicht an. Das machen wir jetzt aber hier so in meinem Seminar“. Es steht ja den Studierenden zum Glück auch frei, andere Seminare zu besuchen. Aber es gibt dieses vielzitierte Beispiel einer Studentin, das mit Triggerwarnungen in Verbindung gebracht wird, wo sich geweigert wurde, Ovids „Metamorphosen“ zu lesen. Es gab dann aber auch Journalist*innen, die, nachdem sich alles ein bisschen wieder abgekühlt hatte, den Fall nochmal ein bisschen genauer erforscht haben. Dabei kam dann raus, dass die Studentin sich daran gestört hatte, wie der Dozent darüber gesprochen hatte, offenbar extrem unempathisch, extrem wenig bewusst, was für Problematiken in solchen Texten man aus einer heutigen Perspektive sehen könnte. Und da würde ich erstmal sagen, da hat die Studentin möglicherweise mit Recht gesagt: „Das berührt mich unangenehm. So will ich eigentlich nicht, dass in meinen Seminaren heutzutage noch über solche Gegenstände gesprochen wird.“ Ich glaube nicht, dass eine Triggerwarnung das Problem aus der Welt schafft, keine Frage, aber ich glaube, man sollte sich wirklich die Mühe machen, wenn man mit Einzelbeispielen konfrontiert wird, jeweils zu ergründen, was die Kontexte sind, worum es da genau ging, wer aus welcher Position argumentiert. Das heißt nicht, dass anklagende, anprangernde Menschen, die hier Gehör suchen, die vielleicht vorher kein Gehör fanden, immer Recht hätten. Ganz bestimmt nicht. Aber ich warne sehr davor, aus Einzelfällen immer gleich diese große Verallgemeinerung abzuleiten. In anderen Bereichen machen wir das auch nicht, glaube ich.

 

Hartig:

Schauen wir noch kurz über die Hochschule hinaus auf die Kultur- und Literaturszene. Bis gestern lief die Frankfurter Buchmesse. Viele werden das mitbekommen haben: Mehrere als rechtsextrem geltende Verlage haben dort auch ausgestellt: der Jungeuropa Verlag, Verlag Oikos, Ahriman, Karolinger unter anderen. Ein Ergebnis davon war, dass Jasmina Kuhnke, eine schwarze Autorin, ihren Auftritt auf der ARD-Bühne abgesagt hat. Sie fühle sich einfach nicht sicher, so ihre Begründung, wenn dort auch Rechtsextreme vor Ort sind. Viele andere haben es ihr gleichgetan. Frau Roßbach, 2017 gab es eine ganz ähnliche Debatte, sie rollen das in Ihrem Buch ein bisschen auf. Damals wurde sie teilweise mit Fäusten ausgetragen. Die Buchmesseleitung sagt 2017 wie heute „Es gilt die Publikationsfreiheit, es gilt die Meinungsfreiheit! Manche Verlage, die gefallen uns vielleicht nicht, aber wir müssen das aushalten“. Ist das so?

 

Roßbach:

Das kann ich nicht sagen, ob das so ist. Ich sehe das tatsächlich auch so, aber ich finde, man kann es auch anders sehen. Also Sicherheit, das ist eine Sache, das muss gegeben sein. Das ist richtig schlimm, wenn eine schwarze Autorin sich tatsächlich nicht sicher fühlt. Es darf nicht sein, dass wirklich eine Gewaltbedrohung herrscht. Ich bin aber trotzdem eigentlich für die Zulassung aller Verlag, so wie ja auch die Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Tsitsi Dangarembga. Gestern habe ich einen Radiobeitrag von ihr gehört, sie ist absolut dafür, dass rechte Verlage da sein dürfen, weil sie sagt „Das ist für mich gelebte Meinungsfreiheit in Deutschland. Das wäre bei uns in Simbabwe unmöglich“. Man kann es so oder so sehen. In meinem Buch schreibe ich über diese Angst, von rechten Verlagen sozusagen direkt infiltriert zu werden, etwas ironisch „Ich traue mir echt zu, an so einem Verlag vorbeizugehen und nicht zum Nazi zu werden“, und das traue ich mir immer noch zu – und ehrlich gesagt, wer von Ihnen wird dadurch nazimäßig beeinflusst, dass sich diese Verlage da präsentieren? Ich finde, es wird wahnsinnig hochgekocht. In jedem Artikel geht es jetzt nur noch um diese Verlage, die haben so eine Publicity dadurch. Wenn man die einfach mal so da sein und rechts liegengelassen hätte, nicht links, sondern rechts, dann wäre nichts passiert. Das ist aber nur meine Meinung und ich akzeptiere da ganz genauso andere und würde auch zugeben, dass ich von der Position der Nichtbetroffenen spreche.

 

Hartig:

Herr Lorenz, ich spitze es mal ein bisschen zu. Sie haben sich in Ihrem Buch damals 2009 mit einer Frage beschäftigt, an die ich in meiner Vorbereitung denken musste. In einem Kapitel werfen Sie nämlich die Frage auf: „Können Texte töten?“ Gestern sagte dann auf dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels eine GRÜNEN-Politikerin aus Frankfurt, Mirrianne Mahn, sinngemäß „Wenn wir jetzt rechtsextremen Verlagen auf dieser Buchmesse eine Bühne bieten, dann bereiten wir damit eigentlich das nächste Hanau vor, die nächsten rechtsextremen Gewalttaten“. Ist das für Sie ein Zusammenhang, den man so einfach ziehen kann?

 

Lorenz:

Texte können nicht töten, das ist hinlänglich in der Medienwirkungsforschung und in der Rezeptionsforschung nachgewiesen worden. Unheimlich viele Leute haben Joseph Conrads „Der Geheimagent“ gelesen, aber nur einer ist zum Unabomber geworden und hat gemeint, er müsste jetzt auch mal Bomben bauen. Dass also die Präsenz der rechtsextremen Verlage auf der Buchmesse Gewalt auslöst, wird man in direkter Kausalkette nicht nachweisen können. Aber was man ja wirklich sagen kann, ist, dass Literatur und prominente Literat*innen, die gehört werden, Diskurse beeinflussen. Das ist in der ganzen Nachkriegszeit und Bonner Republik so gewesen: Autor*innen wurden als moralisches Gewissen der Nation gehandelt. Das ist mit Günter Grass nun wohl ausgestorben. Trotzdem: Wenn die Friedenspreis-Rede gehalten wird oder Handke den Nobelpreis bekommt, dann debattieren wir immer auch über die Moral der Intellektuellen und ihre Wortbeiträge, das hat einen Effekt auf den Diskurs in diesem Land. Man kann an der Friedenspreis-Rede Martin Walsers von 1998 gut verfolgen, dass mit dieser Debatte in unserem Verhältnis zu den Juden in Deutschland etwas ins Rutschen gekommen ist. Das kann man sehen, wenn Björn Höcke sich in der Diskussion um seine Dresdner Rede auf Walser beruft und sagt „Wieso, der sagt es doch genauso wie ich“. Da hat definitiv etwas stattgefunden. Die Walser-Rede würde heute viel glatter durchgehen in einem von der AfD geprägten Kontext, als es damals ging, und schon damals war es ungefähr die Hälfte des Landes, die das völlig okay fand, was Walser gesagt hat, und die andere, die sich gewundert und opponiert hat. Literat*innen haben Auswirkungen auf Diskurse, und wenn sich das Sprechen so ändert, dann ändert sich natürlich irgendwann auch die Politik. Das haben wir inzwischen seit einer ganzen Legislaturperiode mit diesen zum Teil pöbelnden AfDler*innen im Bundestag erlebt, wo ja auch die Frage von manifester Bedrohung durchaus manchmal im Raum steht, wenn insbesondere linke Politikerinnen berichten, dass sie angegangen werden und sich bedroht fühlen.

 

Hartig:

Mit Blick auf die Uhr, noch eine letzte Frage, bevor wir zu den Publikumsfragen kommen. Frau Roßbach, wir haben jetzt besprochen, was Zensur ist, wann es gefährlich wird. Aber manche Leute, auch liberale, progressive Leute sehnen sich regelrecht nach Zensur. Sie beschreiben das auch in Ihrem Buch, zum Beispiel wenn es um Verschwörungsideologien geht oder um rechtsextreme Bücher. Da ist das Verständnis für Zensur oft viel größer. Was sagen Sie denn denen, die auch heute noch davon überzeugt sind, der Staat sollte demokratiefeindliche Meinungen, minderheitenfeindliche Meinungen noch deutlich stärker einschränken, zensieren letztlich?

 

Roßbach:

Das ist ja immer sehr gut gemeint. Das ist die gutgemeinte Zensur, die man total verstehen kann. Wie Joschka Fischer einmal vor einigen Jahren über die Nazinähe der AfD meinte: „Jetzt kommt dieser ganze Dreck wieder hoch“ – das geht mir genauso und natürlich hätte man am liebsten den Deckel drauf und würde sagen: „Nein, das geht doch nicht – ein bisschen weniger Pluralismus der Meinungen tut’s ja auch, ich hätte gerne den rechten Rand weg aus diesem Pluralismus. Dann kann ich ruhiger schlafen. Das kann doch nicht sein. Wehret den Anfängen“. Aber ich glaube, dass so eine Zensur light, die den rechten Rand wegpackt in einer zumindest zensuranalogen Art und Weise, nicht der richtige Weg ist. Es braucht trotzdem die Debatte – und das Sprechverbot kann erst kommen bei Gesetzeswidrigkeit. Dann allerdings ist es aber auch ganz wichtig, dass es einen robusten Staat gibt, der das Recht verfolgt und das Gesetz durchsetzt, der dafür sorgt, dass es eben nicht möglich ist, auf Rechtsrockkonzerten den Hitlergruß zu zeigen, den Holocaust zu leugnen usw. Wir haben ein gutes Gesetzbuch, und wenn man Rechtsverfolgung viel energischer durchsetzen würde, dann käme man schon weit und müsste nicht auf der anderen Seite Dinge, die nicht rechtswidrig sind, verbieten. Diese sind oft ganz schwierig auszuhalten, aber so ist es eben. „Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden“, sagt Rosa Luxemburg.

 

Hartig:

Gibt es gute Zensur, Herr Lorenz?

 

Roßbach:

Nein, sagt Frau Roßbach.

 

Lorenz:

Ich schließe mich da an, aber ich würde sagen, außerhalb von knallharten Diktaturen, die eine absolute Kommunikationskontrolle gewährleisten können, ist Zensur immer ein Misserfolg. Zensur als obrigkeitliche Maßnahme ist ja in Demokratien nicht erfolgreich. Wenn wir jetzt nochmal das Buchmessen-Beispiel nehmen, sollten wir vielleicht nicht so sehr nach den Verboten schielen und sagen „Da hätte ich lieber den Deckel drauf“, sondern vielleicht ein bisschen selbstbewusster auf die Angebote vertrauen, die wir ja dagegensetzen können. Wo sind denn die linken Verlage, die ein Gegenangebot machen könnten gegen Kubitschek und Antaios und die ganze braune Sauce? Wo sind denn die Liberalen, die Angebote vorhalten, die momentan Kubitschek und Co. sehr erfolgreich bespielen? Die Germanistik ist seit ’68 doch mehr und mehr zu so einer linksliberalen Einrichtung geworden und die, die Literatur richtig ernstnehmen, das sind gegenwärtig die Rechten. Also dieses kleine Schnellroda mit seinem kleinen Antaios Verlag, das ist ja nichts Großes. Aber die haben ja eine Emphase beim Sprechen über Literatur, die ganz erstaunlich ist, die natürlich auch naiv ist bis zum Gehtnichtmehr. Aber was wir ernstnehmen sollten, sind nicht so sehr die Auflagen dieser unglaublich schlecht gemachten Bücher, sondern die YouTube-Videos, die da in einer Frequenz rausgehauen werden mit Besprechungen von Kinderbüchern, mit Besprechungen, die sich an Frauen richten, die vielleicht auch gar nicht furchtbar politisch sind, mit Sachen, die irgendwelche Nachkriegsliteraten, vergessene Kriegsmemoirenschreiber usw. wieder ans Licht holen – und die aber doch immer so einen Unterton haben, der verrät dass die Literatur hier doch nur ein Vehikel ist. (Denn wer Literatur als Kunst ernst nimmt, auch als politische Kunst, der muss sie weltanschauungsunabhängig wahrnehmen.) Und wenn ich mich jetzt als Laie für einen bestimmten seltenen Autor interessiere und den Namen im Netz suche, dann ist es oft inzwischen, dass der Kanal von Schnellroda das erste Google-Treffererlebnis ist, und dann sehe ich da zwei alte Hansel, die versuchen, über ein Buch zu sprechen und ja genau nicht Parolen absondern, sondern ein seriöses Literaturgespräch simulieren, aber nie ohne gewisse Untertöne. Mehr ist das nicht. Aber das ist unglaublich erfolgreich und das ist als Ideologie oft gar nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Ich glaube, es wäre eigentlich ein bisschen klüger von der Mehrheit, die damit nicht zufrieden ist, entsprechende Gegenangebote zu machen, um diesen Effekt zu kannibalisieren. Daran würde ich viel mehr glauben als an irgendwelche Verbote. Wir wissen mittlerweile, dass Kubitscheks Institut für Staatspolitik eben auch ein Fall für den Verfassungsschutz ist, nicht mehr nur beobachtet, sondern als rechtsradikal eingestuft wird. So what? Die drucken weiter Bücher, dürfen sie auch. Also offensichtlich ist das ja der Weg, der zu nichts führt. Oder ich fühle mich sicherer, dass die beobachtet werden, das will ich gerne zugeben. Lieber wäre es mir, sie würden von jemand anders beobachtet als von diesem etwas unzuverlässigen Verfassungsschutz, aber ich glaube, wir müssen viel stärker auf die Angebote setzen. Und da merkt man eben, dass die Bücher, die aus Schnellroda kommen, gar nicht so toll sind und die YouTube-Videos auch nicht. Ich weiß nicht, ob sich allzu viele intelligente 19- oder 29-Jährige davon wirklich so einfangen lassen.

 

Hartig:

Gut, dann stelle ich doch noch eine zweite letzte Frage, bevor wir die Stunde vollhaben. Die ist vielleicht ein bisschen gemein. Ich lasse Sie einfach streiten, wer sie beantworten möchte. Es gibt eine aktuelle Allensbach-Umfrage, die schon seit Anfang der Bundesrepublik geführt wird zum Thema Meinungsfreiheit. Aktuell sagt diese Umfrage, dass nur noch 44 Prozent der Deutschen das Gefühl haben, dass sie frei ihre Meinung äußern können. Das ist der niedrigste Wert, seitdem die Bundesrepublik existiert. Woran liegt es? Gibt es da einen Hauptschuldigen?

 

Roßbach:

Sie haben jetzt unterschlagen, dass es ja vor allem die Angehörigen bestimmter, vor allem Parteien sind, die sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt sehen. Das ist natürlich ein performativer Widerspruch, wenn man laut schreit „Ich darf meine Meinung nicht mehr sagen, ich darf meine Meinung nicht mehr sagen“. Es handelt sich um ein ‚gefühltes‘ Seine-Meinung-nicht-mehr-sagen-Dürfen, und ich glaube, dass es viel zu tun hat mit unserer digitalen Medienkultur: Wenn man seine Meinung in sozialen Medien äußert, zum Beispiel als AfD-Anhänger*in, erfährt man oft starken Widerspruch, auch Hating, und dass wird dann so empfunden, dass man seine Meinung nicht mehr sagen kann. Die Medienkultur ist ja durchaus auf beiden Seiten verroht. Darüber muss man auch mal sprechen, dass die Standards einer demokratischen Debattenkultur komplett unterlaufen werden durch in Hatings geäußerte Bedrohungsszenarien.

Ich weiß nicht, ob Sie das mitbekommen haben mit Gil Ofarim in dem Leipziger Hotel, der einen Antisemitismusvorwurf geäußert hat einem Hotelmitarbeiter gegenüber und wie das sofort hochgekocht wurde. Also ich kann überhaupt nicht sagen, ob das nun stimmt oder nicht, darum geht es mir hier auch nicht. Es geht darum, dass die heutige Debattenkultur einfach so ist, dass dieser Mitarbeiter, der diesen Satz offenbar gesagt hat, sich nicht mehr vor die Tür trauen kann, weil er bedroht wird. Und Gil Ofarim erfährt auf der anderen Seite natürlich genauso Hating. Es hat sich eine unglaublich verrohte digitale Debattenkultur entwickelt, wir haben das als Gesellschaft noch nicht hingekriegt, wie man das schafft, dieses völlig regellose Instrumentarium Netz als demokratietaugliches und -würdiges Medium einzusetzen. Vorher hat man 200 Jahre gebraucht, um die die öffentlichen Medien, die heutigen Traditionsmedien, zu demokratischen öffentlichen Foren des Meinungsaustausches zu entwickeln, wo man in gewisser Weise geregelt miteinander umgeht und diskutiert. Das ist natürlich geplatzt. In den Traditionsmedien funktioniert das immer noch, es gibt einen Pressekodex und Pressegesetze in den Bundesländern. Aber wenn man irgendwo einen Blog schreibt, muss man sich natürlich nicht an Standards wie Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Toleranz, Respekt usw. halten.

 

Lorenz:

Die Frage nach den 44 Prozent. Allein schon, dass diese Zahl ansteigt – und ich würde jetzt mal Corona rausrechnen aus meiner Argumentation, was bestimmt auch eine Rolle spielen mag – spricht doch sehr dafür, dass das Anpassungsschwierigkeiten sind. Das habe ich ja vorhin schon gesagt, dieser Satz „Man darf ja nicht mehr sagen“, bei dem ist das „nicht mehr“ der entscheidende Punkt. Wir sind ganz am Anfang einer sich diversifizierenden Gesellschaft, die aushält, dass sie in Diversität lebt, dass es auch einen Dissens geben kann und dass es nicht mehr nur eine Öffentlichkeit gibt, in der eine Elite den Diskurs bestimmt. Wir stehen ganz am Anfang einer Bewusstwerdung davon, was Rassismus eigentlich ist. Unsere Selbstbefragung in der Mehrheitsgesellschaft hat noch gar nicht so richtig eingesetzt. Auch ich kann da Beobachtungen an mir selber machen. Zunehmend werden einem ja auch eigene Urteile vielleicht fragwürdiger und man denkt doch nochmal nach: Wie ist das mit der kulturellen Aneignung? Kann ich das eigentlich beurteilen? Müsste ich vielleicht nochmal besser zuhören? Diese Abwehrgesten, wenn man das erste Mal mit bestimmten Ansprüchen konfrontiert ist: „Wieso, ich bin doch meinetwegen politisch links oder ich war doch schon immer aufgeklärt oder ich bin doch tolerant, das kann doch gar nicht sein. Was sollen denn jetzt diese Vorwürfe?“ – die darf man gerne auch mal hinterfragen. Ich glaube, es sind massive Anpassungsschwierigkeiten in einer sich extrem beschleunigenden Entwicklung. Dazu gehört definitiv das Digitale, dazu gehört aber eben auch die Diversität in der Gesellschaft, die noch nicht so viele Generationen alt ist in diesem Land, und das ist ein Prozess. Insofern machen mir diese 44 Prozent nicht ganz so viel Sorge. Und was ist denn das Medium, mit dem man Empathie mit anderen erzeugen kann? Das ist doch immer noch die Literatur. Sie ist das Medium, für das die zeitweise Übernahme fremder Perspektiven geradezu konstitutiv ist. Darum ist auch sogar der Beruf der Germanistin, des Germanisten immer noch ein wichtiger, weil wir Deutschlehrer*innen ausbilden, die das hoffentlich dereinst mit einem anderen Kanon an die künftigen Generationen weitertragen.

 

Hartig:

Dann kommen wir jetzt zu den Fragen aus dem Publikum. Wer hat eine Frage?

 

Publikum:

Sie haben jetzt auch gerade vermehrt über die amerikanischen Verhältnisse gesprochen und mich würde auch von Ihrer Position nochmal interessieren, inwiefern ein möglicher Import dieses Diskurses Probleme beschleunigen könnte, die eben auch in den amerikanischen Verhältnissen zu diesen Problemen führen. In Chicago gab es eine Form von Pamphlet oder Manifest, wo nochmal zugesichert wurde, dass die Universität von Chicago sich gegen diese Form von … Political Correctness nicht, aber zumindest gegen diese Tendenzen stellt, die halt sehr dogmatisch sind und auch den Wissenschaftsbetrieb zumindest eingrenzen. Sehen Sie ein Problem, dass diese Tendenzen womöglich auch für Deutschland ein Problem werden könnten für die Universitäten?

 

Roßbach:

Es gibt da ja tatsächlich eine Verzögerung von circa zwei Jahren. In meinem Buch, das ja auch schon einige Jahre alt ist, hatte ich geschrieben, dass durch die kritische Rezeption dieses amerikanischen Weges hier natürlich ein ganz anderer Boden bereitet ist und vielleicht die radikal dogmatischen Formen, die wir, glaube ich, alle ablehnen, hier schon ganz anders ankommen und auf eine viel kritischere Rezeption stoßen. Bei uns ist es ja tatsächlich so, dass es eher noch Ausnahmen sind, dass auch die Safe-Space-Konstruktionen sich zum Beispiel auf LGBTQ-Referate oder so beziehen. So etwas finde ich es übrigens auch vollkommen okay, wenn man einen einzelnen Raum so definiert. Ich finde nur, dass ein Uniseminar kein Safe Space sein kann, wo die heterogensten Menschen zusammentreffen. Ich denke, dass es sich hier nicht breit durchsetzen wird. Da gehe ich auch mit Herrn Lorenz mit, es sind doch eher Einzelfälle. Das Triggerwarning-Konzept gerade in Bonn hat mich erstaunt, weil es ja eine sehr traditionelle Universität ist, da hat sich das Gleichstellungsreferat durchgesetzt und das kann man mal beobachten. Es wird sofort intensiv darüber debattiert, was auch gut ist. Wenn man Pro und Kontra dazu austauschen und lesen kann, ist das gelebte Debattenkultur.

 

Publikum:

Ich will eigentlich nur einen Begriff mit in die Debatte reinwerfen im Kontext der Cancel Culture, und zwar von Sharon Doduo Otoo, einer schwarzen afrodeutschen Autorin, die in ihrer Rede zur Literatur beim Bachmann-Preis gesagt hat: „Es gibt Meinungsfreiheit, aber es gibt keine Konsequenzenfreiheit“. Ich glaube, das ist ein guter Begriff im Zusammenhang mit Cancel Culture, denn es geht ja oft gar nicht darum, dass die Leute nicht sagen dürfen, was sie sagen wollen. Sie können nur das Echo nicht vertragen, um es mal etwas flapsig auszudrücken, und das scheint mir ein zentrales Problem zu sein. Also wie Sie vorhin gesagt haben, sozusagen jeder darf Arschloch sein, jeder darf auch einen rassistischen Begriff benutzen. Er oder sie muss dann nur damit leben, dass andere das nicht gerne hören wollen und vielleicht dafür ihre Bühne auch nicht zur Verfügung stellen wollen. Ich glaube, das ist ein zentraler Punkt, sich das klarzumachen. Das ist in Unikontexten vielleicht anders als in so einer Seminarsituation, wo ich als Studentin/Student nicht entscheiden kann, weil ich das Seminar vielleicht brauche, aber zum Beispiel im Kulturbetrieb würde ich sagen: „Ja gut, du kannst das ja sagen, aber dann musst du halt auch damit leben, dass du vielleicht einen Auftritt nicht bekommst oder er dir weggenommen wird.“ Ich glaube, dieser Begriff der Konsequenzfreiheit ist eigentlich ein ganz guter Begriff in dem Zusammenhang.

 

Roßbach:

Das finde ich eine sehr gute Ergänzung, es ist ein ganz wichtiger Punkt, den Sie bringen, genau darum geht es auch immer bei der Frage nach dem Zensurbegriff. Ganz oft wird Zensur verwendet, wenn man eigentlich die Kritik nicht vertragen kann. „Was, du zensierst mich?!“ „Nein ich habe dich gar nicht zensiert, ich habe dich nur kritisiert.“ Gerade im politischen Bereich ist das ganz oft so, dass die AfD sagt: „Wir werden zensiert“, dabei gibt es nur einfach richtig robuste Kritik daran, dass brutale Sachen z.B. in der Flüchtlingsdebatte, die ich jetzt hier nicht reproduzieren will, gesagt wurden. „Konsequenzfreiheit“: ein wichtiger Begriff, danke dafür.

 

Hartig:

Sie, Frau Roßbach, haben es eben schon angesprochen, dass die Veröffentlichung Ihres Buches jetzt schon ein Stückchen zurückliegt. Ich habe mich gefragt: Müssten Sie Teile des Buches heute eigentlich anders schreiben?

 

Roßbach:

Der Begriff ‚Cancel Culture‘ ist neu dazugekommen. Den gab es noch nicht in der deutschen Debatte. Natürlich würde ich das jetzt auch aufgreifen. Ich habe das Gefühl, dass bei ganz vielen Dingen das Label ‚Zensur‘ ersetzt worden ist durch das Label ‚Cancel Culture‘. Die Debatten, die vor vier Jahren mit dem Begriff ‚Zensur‘ geführt wurden, werden es jetzt mit dem Begriff ‚Cancel Culture‘.

 

Lorenz:

Was schwappt da eigentlich aus den USA rüber? Es schwappt oft etwas Unverständliches rüber, oder etwas Unverstandenes. Cancel Culture ist eigentlich ein Phänomen von Black Twitter gewesen. Das heißt read (das, was die Leute absondern), call out (also anprangern, wenn es dir nicht gefällt, wenn du es rassistisch findest) und dann cancel – das ist der dritte Schritt, zu sagen: „Dann entziehe ich dir meine Aufmerksamkeit, weil du rassistischen Mist geäußert hast!“ Bei uns kommt dann an: Lisa Eckhart darf beim Harbour Festival ihre Antisemiten-Nummer nicht abziehen. Die natürlich ironisch gemeint ist, das habe ich verstanden. Aber das sind doch sehr unterschiedliche Phänomene, und so ist es häufig, wenn diese Begriffe nur gekoppelt an bestimmte Anekdoten, die besonders einprägsam, jedoch nur halb verstanden sind, importiert werden. Die natürlich immer auch vorgebracht werden von Leuten, die das ganze Phänomen nicht gut finden oder ins Lächerliche ziehen wollen. Man konnte das bei ‚Political Correctness‘ in den 90er Jahren ganz gut beobachten, als der Begriff nach Deutschland kam. Da haben wir noch überhaupt nicht über die Selbstbezeichnung von Minoritäten nachgedacht, die doch der Hintergrund der amerikanischen Debatte war, sondern das Correctness-Konstrukt wurde adaptiert als historische Korrektheit in Bezug auf den Nationalsozialismus: Wie dürfen wir denn heute noch – oder eben nicht mehr – über die Beteiligung der Wehrmacht an den Verbrechen des Holocaust oder was auch immer sprechen? Dazu gibt es diskursgeschichtliche Studien, die mir valide erscheinen. Dass in Deutschland bis wahrscheinlich vor fast zehn Jahren dieser PC-Diskurs aus den USA überhaupt nicht adäquat abgebildet worden ist, sondern sich als ein Historical-Correctness-Diskurs in Mahnmalsdebatten, Walser-Bubis-Debatten und so weiter niedergeschlagen hat, das ist doch interessant und kann einem vielleicht auch eine Lehre sein. Ich würde hoffen, dass Sie recht haben. Inzwischen beobachten wir vielleicht etwas mündiger, vielleicht etwas kulturkundiger auch die Debatten, die in den USA laufen, sodass es hier schon einen Vorlauf gegeben hat, wenn sich die Begriffe – meistens Kampfbegriffe von rechts – einbürgern, dass man auch adäquat darauf reagieren kann.

 

Publikum:

Es gab vor einigen Monaten diese Diskussion um die Übertragung des Gedichts von Amanda Gorman. Platt gesagt, war da eine Position: „Das Gedicht einer Schwarzen kann ein Weißer oder eine Weiße nicht adäquat übersetzen“. Ist das etwas anderes als ein biologistisches oder rassistisches Motiv? Wie schätzen Sie das ein? Kann man das auch anders beschreiben als mit diesen negativen Begriffen?

 

Roßbach:

Also als Rassismus würde ich es insofern nicht beschreiben, weil mit Rassismus immer Machtverhältnisse zu Ungunsten der Betroffenen einhergehen. So definiert man Rassismus. Wenn eine weiße Übersetzerin an ihrer Arbeit gehindert würde, ist das nicht als ‚rassistisch‘ zu bezeichnen. Das ist übrigens was, was fast alle, mit denen man darüber redet, sofort so sagen: „Das ist doch rassistisch“, und dann sage ich immer: „Nein, Rassismus hat immer was mit Macht zu tun und mit ungleichen Verhältnissen zu Ungunsten der Betroffenen.“ Und die weiße Übersetzerin wäre ja Mitglied der Majorität, der Mehrheitsgesellschaft, nicht der Minorität. – Aber als Diskriminierung ist es auf jeden Fall definierbar, weil ich eben wegen einer pauschalen Gruppenzugehörigkeit durch meine Hautfarbe eine gewisse Handlungsbeschränkung erfahre. Das ist eigentlich genau die Definition von Diskriminierung und die ist in Deutschland durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verboten. Das finde ich schon, dass man das auch so diskutieren darf und mich erschreckt das ehrlich gesagt oder befremdet mich, wenn es wirklich von meiner Hautfarbe abhängen sollte, wie gut oder schlecht ich ein Gedicht analysiere oder eben übersetzen kann. Ich habe aktuell ein Projekt zu Autorschaftskonstruktionen in der deutschsprachigen Exilliteratur der Gegenwart zusammen mit zwei deutschen Kolleg*innen und einem türkischen Kollegen, und wir diskutieren die ganze Zeit über solche Sachen wie Postmigration, Transkulturalität oder die sogenannte ‚neue deutsche Literatur‘, die eben nicht mehr schubladisiert wird nach Migrationshintergrund, wo man sich das einfach gar nicht mehr fragen will, welche Hautfarbe hat jetzt wer. Es ist einfach deutsche Literatur, die auf deutsch geschrieben wird. Wenn ich dann von dieser Bubble mit den Kolleg*innen in die andere Bubble komme, denke ich: „Huch, darf ich das vielleicht jetzt als Weiße gar nicht mehr mitmachen, dieses Projekt“, weil es ja sehr häufig um Autor*innen geht, die sich von der Pigmentierung her zumindest ein bisschen von meiner unterscheiden. Das heißt nicht, dass ich meine Whiteness dabei nicht reflektiere – diese ‚Aufgabe‘ nehme ich schon mit aus den identitätspolitischen und postkolonialen Diskussionen. Ich kann nicht einfach so tun, als hätten wir alle die gleiche Hautfarbe oder als wäre es egal. Aber ich muss trotzdem noch als Weiße an diesem Diskurs teilnehmen dürfen. Vor kurzem sprach ich mit einem Studenten über einen kritischen Kolonialismusforscher, der seit Jahrzehnten über deutsche Kriegsverbrechen in Namibia geforscht hat und deshalb auch schon von Täternachfahren verklagt wurde dafür, nun aber nicht mehr erwünscht war bei einer Diskussion aufgrund seiner weißen Hautfarbe. Der Student stellte dann die kluge Frage: „Aber wie ist denn jetzt eigentlich der Plan? Wann sollen denn dann Weiße wieder mitreden dürfen?“ Tatsächlich, diesen Moment gibt es irgendwie nicht. Der Plan könnte so sein: Irgendwann haben wir alle die Gleichheit erreicht (ganz im Sinne eines teleologischen Geschichtsmodells) und dann dürfen die Weißen wieder mitreden. So kann das aber nicht funktionieren. Wir müssen weiter mitstreiten und mitreden – und dabei unser Weißsein bewusst halten. Es ist ja sogar auch noch unsere Geschichte, unsere peinliche, schamvolle.

 

Lorenz:

Die Frage ist, für wen man spricht und ob dieses Sprechen immer so erwünscht ist. Das ist natürlich ein Minenfeld. Ich denke auch, Selbstreflexion ist unabdingbar, vielleicht auch ein bisschen zuhören, wann es erwünscht ist, sich da zu beteiligen oder nicht. Ich habe das Gefühl, dass dieses Gorman-Gedicht-übertragen-Thema eine dieser typischen Einzelanekdoten ist. Ich sehe heute überhaupt niemanden, der rumläuft und sagt: „Mist, warum ist das nicht nur von schwarzen Übersetzer*innen übertragen worden?“ Das war einmal so ein Aufreger, wird aber bis heute rauf und runter zitiert. Ich glaube, es war relativ bald erkennbar, dass es kein kluges Argument war. Wir sollten aber vielleicht auch so selbstkritisch sein zu überlegen, dass zum Beispiel im deutschen Historikerstreit sehr ernsthaft deutsche Historiker, die selber in der Hitlerjugend oder Wehrmacht waren, sagten, Raul Hilberg solle lieber nicht dazu forschen, da er viel zu betroffen als Verfolgter des Naziregimes sei – und selber nicht in der Lage waren zu erkennen, dass sie vielleicht noch viel betroffener waren. Natürlich sind wir – wir sitzen ja hier auch wieder vor einem rein weißen Publikum – betroffen von der Geschichte des Rassismus und des Kolonialismus. Man kann doch in diesem Land nicht ohne Rassismus und Antisemitismus aufwachsen. Zumindest ist mir das noch so ergangen. Dann kann man nur anfangen, das zu reflektieren und abzulegen und vielleicht ab und an mal zuzuhören, aber sich eben auch von diesen Anekdoten nicht so sehr ins Bockshorn jagen zu lassen. Denn wo ist die Instanz, die mit Macht noch heute diese Gorman-Übersetzungsdebatte, die ich persönlich für verfehlt halte, noch verficht? Ich sehe sie nicht und darum brauche ich mich daran jetzt auch gar nicht so abzuarbeiten. Vielleicht ist das doch Teil eines demokratischen Diskurses, dass sich zwischen Maximalforderungen vermittelnde Positionen finden. Das geht ja nur, indem Positionen ausgetauscht werden. Und vielleicht das noch zuletzt, weil das ja ein Cancel-Beispiel sein soll, es seien weiße Übersetzer*innen gecancelt worden. Es geht natürlich, wenn man Canceln als eine aktivistische Strategie begreift, darum, Gehör zu finden. Und das ist an der Stelle gelungen. Ich bin damit nicht gewonnen worden, aber ich kenne die Frau oder den Mann nicht, die diese Forderung gestellt haben. Ich habe mich nicht näher damit beschäftigt. Das wäre, glaube ich, meine Pflicht, wenn ich jetzt in diesen Diskurs eintreten wollte.

 

Publikum:

Es ist nochmal ein anderer Aspekt als der, den wir gerade diskutiert haben. Ich würde nochmal an den Anfang der Diskussion zurückkommen wollen, wo die Frage war nach Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit und nach der Rolle, die Universitäten in dieser Gemengelage spielen. Ich habe mich bei den Debatten, die an der Uni Siegen, an der Uni Kassel, glaube ich auch, geführt wurden, bestimmte Leute eingeladen wurden, dann wieder ausgeladen wurden oder auch nicht ausgeladen wurden, gefragt, ob eigentlich Universitäten in irgendeiner Art und Weise verpflichtet sind, jeder Meinung – und ich sage jetzt bewusst Meinung, nicht einer wissenschaftlichen These oder Hypothese oder so – das Feld bieten zu müssen zur Äußerung, wenn sie sich doch als wissenschaftliche Institution versteht. Das würde mich interessieren, wie Sie das einschätzen. Warum muss ich einem als rassistisch bekanntem Redner, der biologistische Argumente vertritt (ich meine, das wäre rassistisch), warum muss ich dem die Bühne bieten als Universität, wenn ich doch weiß, dass das aus einer wissenschaftlichen Position heraus nicht zu halten ist. Die kann natürlich auch verschiedene Aspekte haben, aber wir wissen doch, dass der Rassismus wissenschaftlich nicht zu erklären ist oder nicht zu halten ist. Also warum müssen wir einem solchen Menschen in einer Universität die Bühne bieten, es sei denn, wir verstehen Universität eben als den gleichen Raum wie der Marktplatz, wo eine Demonstration stattfinden kann? Das würde mich nochmal interessieren, ob Sie da einen Unterschied sehen würden oder ob eben die Universität ein Raum sein kann, wo jeder eben seine Meinung sagen kann. Ich würde vielleicht argumentieren wollen, dass die Universität ein Raum ist, in dem man nur begründete Meinungen und argumentativ gestützte Meinungen von sich geben sollte. Manchmal ist die Grenze nicht ganz scharf zu ziehen, das ist mir natürlich auch klar. Aber manchmal ist sie doch auch ziemlich klar zu ziehen in der Vergangenheit. Also woher kommt sozusagen eigentlich das Begehren, dass man immer jedem eine Bühne bieten muss, um sozusagen sich nicht den Vorwurf zu ziehen, ich schränke den Pluralismus ein? Also warum muss in einer Anne-Will-Show jemand sitzen, von dem ich genau weiß, er vertritt Positionen, die zum Beispiel grundrechtswidrig sind oder so? Warum muss ich diesen Leuten eine Bühne bieten – und für die Universität stellt sich diese Frage meiner Meinung noch mit sehr viel größerer Schärfe.

 

Roßbach:

Ich habe mich damals mit meinem Buch beschäftigt mit diesen Leitlinien von Universitäten. Ich würde Ihnen auf jeden Fall zustimmen, dass es an der Universität vor allem um wissenschaftlichen Diskurs geht. Es muss kein Politikforum sein, wo Wahlkämpfe ausgetragen werden zum Beispiel. Also da muss keine Rede eines AfD-Politikers stattfinden, einfach kontextfrei. Was aber eben sein kann, ist, dass zum Beispiel eine Dozentin einen Politiker einlädt in ein Seminar, und das ist ja meist der Fall. Vorträge sind ja immer eingeladene Vorträge. Dann kann eben diese Dozentin aufgrund der Lehrfreiheit nicht daran gehindert werden, diese Person einzuladen. Es ist aber so, so sagte es mir in diesem Zusammenhang auch der damalige Präsident unserer Universität, dass immer geguckt werden soll, dass Ausgewogenheit herrscht, also dass dann, wenn eine rechte Position vorgestellt wird, in diesem Seminar auch eine linke Position gehört werden sollte und die Debatte damit in einer wissenschaftlichen Balance und auch in einer wissenschaftlichen Kontextualisierung stattfinden kann. Ich stimme Ihnen auf jeden Fall zu, dass eine Universität nicht grundsätzlich ein politisches Veranstaltungsforum ist. Man muss auf keinen Fall als Universität sagen: „Ja, wir müssen so frei sein und wir müssen jedem Rassisten, jeder Rassistin eine Bühne bieten“.

Weiter wird dann ja in der Cancel-Culture-Diskussion auch immer darüber diskutiert, ob es okay ist oder eben die Meinungsfreiheit einschränkt, wenn dann der Asta reinstürmt oder Studierende das irgendwie boykottieren. Ich würde sagen, manchmal wäre es besser zu debattieren, andererseits ist es aber ein ganz normales demokratisches Recht auf Widerstand. Man darf Boykottieren in unserem Land, und das ist vollkommen in Ordnung. Solange keine Körperverletzung stattfindet, ist das eine legitime Möglichkeit, Protest zu äußern. Es gehört auch zu einer Debattenkultur in der Demokratie dazu, eine Debatte zu stören. Das war schon bei den 68ern der Fall. Sogar Adorno ist ja von ‚seinen‘ Studierenden ganz harsch angegangen worden und war darüber höchst verletzt. Das gehört dazu.

 

Lorenz:

Man muss sich eben in unterschiedlichen Öffentlichkeiten unterschiedlich qualifizieren, und bei Anne Will ist die Qualifikation eines Gauland, dass er soundso viel Prozent Wählerstimmen bekommen hat. Also wird er da sitzen müssen. An der Universität qualifiziert man sich durch wissenschaftliche Qualifikation. Unseren Studierenden bringen wir im Seminargespräch bei, dass auch nicht jede Antwort ‚irgendwie‘ richtig ist, schon gar nicht jede Meinung, sondern wir versuchen den Leuten im Laufe des Studiums beizubringen, dass sie faktenbasiert, methodisch sauber und theoriegeleitet ihre Aussagen tätigen. Und das ist natürlich auch der allererste Anspruch an Vorträge an einer Universität. Warum sonst sollte jemand in der Universität vortragen? Dass das mitunter missbraucht wird, um irgendwelche Politiker*innen einzuladen oder irgendwelche illustren Figuren, darf man schon auch hinterfragen. Man kann aber eben weder bestallte Professor*innen daran hindern, irgendwen einzuladen, das gehört alles zu unserer Lehrfreiheit, noch kann man Studierende hindern, Boykotte durchzusetzen. Warum denn nicht? Also ich finde, auch da stellt die Systemfrage („Darf Uni, soll Uni?“) sich so nicht. Wenn man Universität ernst nimmt, dann hat das was mit qualifiziertem Sprechen zu tun, in dem Fall wissenschaftlich qualifiziertem Sprechen.

 

 

Hartig:

Ich habe noch eine letzte Frage an Frau Roßbach, die mich wirklich beschäftigt: Sie schreiben in Ihrem Buch sehr pessimistisch: Man wäre als Neurechte ziemlich unklug, wenn man diese ewige Zensurpolemik aufgeben würde. „Je undifferenzierter, je beleidigender, je respekt- und niveauloser politische Äußerungen sind, desto mehr Skandalisierungspotenzial besitzen sie im Medienzirkus und wenn sich dann Widerstand gegen derartige Äußerungen regt, kann man ja sofort Zensur schreien.“ Das klingt für mich nach einem Teufelskreis. Wie kommen wir denn da raus?

 

Roßbach:

Die letzten drei Worte meines Buches heißen „Mut und Zuversicht“. Von wegen Pessimismus! Wir müssen natürlich im Gespräch bleiben darüber. Wir müssen mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben und gucken, wo wirklich Freiheit bedroht wird und wo es vielleicht nur gefühlt so ist, dass man es beispielsweise einfach unangenehm findet, Gegenwind zu bekommen auf strittige Äußerungen, und dass vielleicht dieser Gegenwind durch die sozialen Medien enthemmter ist. Letzteres ist natürlich nicht gut – aber trotzdem keine Zensur. Wir müssen darauf achten, dass das Wort ‚Zensur‘ weiterhin eine scharfe Waffe bleibt im Kampf gegen die Meinungsunfreiheit.

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